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Sie helfen gern, aber nicht um jeden Preis

Pressemitteilung vom 19.07.1999


Mit Erziehungshelferinnen in Toitenwinkel im Gespräch/Schulbummelei ist ein großes Problem

Sie können Hilfe nicht verordnen. Wer Hilfe braucht, muß bereit sein, sie auch anzunehmen. Eine Tatsache, die den Erziehungshelfern des Sozialpädagogischen Dienstes wohl oft als Unfähigkeit ausgelegt wird. Die Sozialarbeiterinnen um Renate Radder und Birgit Erdmann in Toitenwinkel kennen dieses Vorurteil und müssen damit leben.

Sie sind der erste Anlaufpunkt für Kinder, Jugendliche und Eltern, wenn zu Hause etwas nicht läuft. Sie lernen Probleme und Sorgen kennen, versuchen passende Hilfsangebote zu vermitteln, verfolgen die weitere Entwicklung und bleiben Ansprechpartner. Sie werden aber in der Erziehung nicht selbst aktiv. Der Sozialpädagogische Dienst spielt eine eher vermittelnde Rolle und bietet in jedem Wohngebiet seinen Service an. In die Toitenwinkeler Sprechstunde kommen Eltern, denen die Sorgen mit dem Nachwuchs über den Kopf wachsen oder auch Jugendliche, wenn zu Hause der Rausschmiß droht. Informa- tionen von Nachbarn, von Schule oder Kindernotdienst sind da eher Ausnahmen.

Der Schritt zum Jugendamt fällt keinem leicht. Verständlich. Wer redet schon gern über die eigene Hilflosigkeit, über Fehler oder Unterlassungssünden? Da müssen die Probleme schon übermächtig geworden sein. Das kann passieren, wenn Eltern mit den Freiheiten ihrer Kinder nicht zurechtkommen, Gebote und Verbote nicht mehr funktionieren. Da kommen die Schützlinge von der Disco immer später nach Haus oder machen irgendwann vielleicht mit Drogen Bekanntschaft. Schon bei Elf- und Zwölfjährigen spielt Schulbummelei eine große Rolle, ebenso die etwas ungewöhnliche Art der Freizeitgestaltung mit Fernsehen von morgens bis abends, mit Alkohol und Zigaretten. Wer in der Schule fehlt, hat Ärger mit Mitschülern und Lehrern und geht den Konflikten besser gleich aus dem Weg. Ein Kreislauf, der mitunter schwer zu durchbrechen ist. Für Renate Radder nehmen diese Fälle erschreckende Ausmaße an. Da haben 14jährige in ihrem kurzen Leben schon fünf bis sechs Schulen kennengelernt und die Nerven mancher Lehrer bis an die Grenzen ausgetestet.

Das sind nur wenige Beispiele von rund 500 aktuellen Fällen, die die fünf Sozialarbeiterinnen derzeit in Dierkow, Toitenwinkel, Brinckmansdorf und den umliegenden Stadtteilen bearbeiten und begleiten. Einzelfälle einer wie der andere, für die es weder Register, noch Schubladen und schon gar keine allgemeingültigen Rezepte gibt. Bei Schulbummelei haben die Sozialarbeiterinnen zum Beispiel mit Schulsozialarbeiterinnen im Wohngebiet und einem eigens entwickelten ABM-Projekt gute Erfahrungen gemacht. Zuallererst werden Hilfsmöglichkeiten innerhalb der Familie geprüft. Schließlich garantiert auch eine Heimeinweisung keineswegs immer den gewünschten Erfolg. Hilfe und Unterstützung, ganz gleich welcher Art, muß insbesondere von den Betroffenen gewollt sein. Hilfe um jeden Preis ist wenig sinnvoll, wenn nicht gar unmöglich. Das wissen die Sozialarbeiterinnen um Birgit Erdmann aus Erfahrung. Sie haben schon manches Hilfsangebot nach kurzer Frist abgebrochen, weil die Eltern ihrem Kind zum Beispiel ein anderes Leben aufzwingen wollten, doch die Bemühungen fehl schlugen. So ist die 15jährige, nennen wir sie hier Martina, aus einem betreuten Wohnprojekt wieder zur Mutter entlassen worden. Die Drogenabhängige suchte den gesicherten Schlafplatz und ihre Ruhe. Sie war aber weder zu Gesprächen bereit, noch zu Bemühungen, an ihrer Situation irgendetwas zu ändern. Hier wird eher die Mutter eine Stütze brauchen, das Los ihrer Tochter zu akzeptieren. Martina aber weiß, wo sie in der Not ein Bett oder eine Dusche findet. Anders bei Martin, der gern im mütterlichen Haushalt geblieben wäre. In Rostock schaffte es der 13jährige kaum einen Tag in die Schule, weil auf dem Weg immer die Clique oder andere Unternehmungen dazwischen kamen. Eine Umschulung hätte wenig Zweck gehabt, denn Martin hat in Rostock überall gute Kumpels. Er wohnt jetzt außerhalb in einem Kinderheim und geht sogar in die Schule. Ein Lichtblick, der Birgit Erdmann freut. Erfolg ist für die Sozialarbeiterin eine kaum meßbare Größenordnung. Ein Schulbummelant wird kaum als Musterschüler Karriere machen. Die erfahrene Pädagogin weiß auch kleine Freuden zu schätzen und muß Einbrüche und Rückschläge verkraften können. Das schmerzt auch die eigentlich Außenstehende.

Erziehungshilfe ist ein mühsamer Prozeß. Vertrauen ist wichtig und viele Gespräche, um die Probleme und Sichtweisen beider "Parteien" zu kennen. Nicht selten sind gemeinsame Gespräche im Jugendamt das erste Mal nach langer Zeit, daß Eltern und Kinder einander überhaupt zuhören. Sind alle Informationen komplett, wird die Sozialarbeiterin den Betroffenen konkrete Hilfsmöglichkeiten vorschlagen. So kann dem Nachwuchs zum Beispiel ein Erziehungsbeistand zur Seite stehen, der dessen Entwicklung fachkundig begleitet. Familienhelfer können zum Einsatz kommen, die die Erziehung von Eltern kleinerer Kinder unterstützen. Ein Bett im betreuten Wohnprojekt kann Spannungen beseitigen helfen, die Überweisung zum Kinderpsychologen oder das Kinderheim. In jedem Fall werden die Eltern selbst die Entscheidungen treffen müssen und viel Geduld brauchen. sw