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Der Umgang mit dem “Fremden” in der offenen Gesellschaft

Pressemitteilung vom 23.08.2002



Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrter Herr Präsident,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

in meinem Referat möchte ich von der These ausgehen, dass prinzipiell nur in der offenen Gesellschaft ein respektvoller und nicht diskriminierender Umgang mit dem Anderen möglich ist, auch wenn dies de facto nicht immer der Fall ist.

Unter “offener Gesellschaft" verstehe ich nicht unbedingt eine Einwanderungsgesellschaft mit offenen Grenzen, sondern in Anlehnung an Sir Karl Raimund Popper eine Gesellschaft, in der die Zukunft prinzipiell offen ist. Die Bürger der offenen Gesellschaft werden nicht von einem übermächtigen Staat oder von einer Einheitspartei geleitet und überwacht. Sie müssen verantwortungsvoll Entscheidungen unter Unsicherheit treffen und hierfür auf ihren eigenen kritischen Sinn und auf ihre eigenen Fähigkeiten rekurrieren. Beim politischen Handeln werden unweigerlich Fehler gemacht. Diese können aber erkannt und bewertet werden. Dann sind neue, bessere Entscheidungen möglich. Popper schreibt dazu:

“Wir müssen ins Unbekannte, ins Ungewisse, ins Unsichere weiterschreiten und die Vernunft, die uns gegeben ist, verwenden, um, so gut wir es eben können, für beides zu planen: nicht nur für Sicherheit, sondern zugleich auch für Freiheit" .

In der offenen Gesellschaft können Vorschläge zur Lösung der gesellschaftlichen Probleme öffentlich vorgetragen werden, eine Kritik dieser Vorschläge erfolgen, Reformansätze auf der Grundlage der kritisch diskutierten Vorschläge erarbeitet und die Ergebnisse einer Reform überprüft werden, und zwar nach der erkennt-nistheoretischen Methode des Versuch und Irrtum-Verfahrens.

Ich werde mich zuerst bemühen, meine Eingangsthese zu belegen, wobei ich zugleich auf die Tatsache hinweisen werde, dass die offene Gesellschaft eine angemessene Einbeziehung des Anderen zwar möglich macht, aber keinesfalls sicherstellt. In einem zweiten Moment werde ich auf dem Umgang mit dem “Fremden" in der geschlossenen Gesellschaft eingehen, bevor ich dann zeige, dass der Umbruch von einer geschlossenen in eine offene Gesellschaft ein großes Risiko für den “Fremden" in sich birgt, wie wir am Beispiel der Ereignisse in Rostock- Lichtenhagen vor zehn Jahren leider einmal mehr sehen konnten.

Der Umgang mit dem Anderen in der offenen Gesellschaft

Offenheit setzt laut Popper Bescheidenheit voraus. In der offenen Gesellschaft muss der Mensch anerkennen - und das fällt ihm offensichtlich nicht leicht - , dass er die Welt nicht beherrschen, sondern nur schrittweise verbessern kann. Er muss also seine eigene Fehlbarkeit zugeben und seine Grenzen erkennen. Erst eine solche Bescheidenheit ermöglicht eine tolerante Haltung gegenüber Andersdenkenden und fremden Lebensformen. Denn nur derjenige, der weiß, dass er nicht allwissend ist, ist in der Lage, den Anderen als gleichwertig zu betrachten und ihm einen Platz in der Gesellschaft einzuräumen. Dabei sollte man Toleranz nicht mit Gleichgültigkeit oder gar Beliebigkeit verwechseln. Popper selbst hat auf das Paradox hingewiesen, wonach eine uneingeschränkte Toleranz mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz führt. Denn wenn die unbeschränkte Toleranz auf die Intoleranten ausgedehnt wird, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und mit ihnen die Toleranz. In der offenen Gesellschaft sollte der einzig echte “Fremde" der Intolerante sein. Der Andere wird dagegen als potentieller Mitgestalter der Zukunft und als Träger eines ethischen Imperativs gesehen. Seine Andersheit wird nicht als Fremdheit missdeutet. “Fremd" zu sein ist ohnehin keine objektive Gegebenheit, sondern eine Konstruktion und eine Frage der Interpretation. Menschen oder Gruppen aller Art werden als “fremd" empfunden und abgestempelt. Eine Gruppe, die eine Zeitlang als Fremdkörper einer Gesellschaft betrachtet wird, kann genauso gut später als ihr Bestandteil gelten (wie z.B. im Falle der protestantischen Minderheit in Frankreich bzw. der Italiener in Frankreich und Deutschland, usw.). Auch der Akzeptanzgrad von als “exotisch" geltenden Menschen oder Gruppen schwankt von einer Gesell-schaft und einer Zeit zur anderen .

Wie Jürgen Habermas betont, ist die moderne Kollektividentität nichts, was man erhält und behält. Sie ist ein Konstrukt, das sich im Laufe der Zeit verändert und vor allem auf dem Prinzip des Konsens aufbaut. Die Nation ist keine Abstammungs- bzw. kulturelle Gemeinschaft, sondern eine Assoziation von Freien und Gleichen. Kollektividentität entsteht in der offenen Gesellschaft nicht in Abgrenzung zu den Anderen, sondern durch eine rege Interaktion mit ihnen. Sie wird nicht durch Abstammung oder Treue zur Tradition definiert, sondern durch die Verfolgung gemeinsamer Ziele und durch die Zustimmung zu Entscheidungsverfahren.

In dieser Hinsicht war die Einführung eines auf dem Bodenrecht beruhenden neuen Staatsangehörigkeitsrechts am 1. Januar 2000 in Deutschland schon lange überfällig. Diese Reform hat zum ersten Mal in der deutschen Geschichte im Bereich der Einbürgerung von Ausländern das alte Abstammungsprinzip durch das neue Territorialprinzip ergänzt und so das Verständnis der Kollektividentität verändert und modernisiert.

Die liberalen parlamentarischen Demokratien, die allgemein als offene Gesellschaften gelten, setzen sich folgerichtig für Pluralismus und Toleranz ein. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Einbeziehung des Anderen hier immer zufriedenstellend verläuft. Man beobachtet heute europaweit ein Erstarken rechtspopulistischer und religiös-fundamentalistischer Strömungen, die eine Bedrohung für die Grundsätze des Pluralismus und der Toleranz darstellen. Sucht man nach den Gründen für dieses Phänomen, stellt man fest, dass an dieser Entwicklung die offene Gesellschaft selbst nicht ganz unschuldig ist. Zahlreiche Bürger werden durch die Offenheit der Gesellschaft und die damit verbundene Freiheit verunsichert. Sie erleben die steigende Emanzipation des Subjektes von ehemaligen Autoritäten (Traditionen, Religionen, Ideologien) als eine beunruhigende Freisetzung in eine Welt ohne Schutz und Sicherheit. Die Öffnung der Grenzen und der Märkte im Rahmen des Prozesses der europäischen Integration und der Globalisierung erscheinen außerdem vielen außerdem als Bedrohung. Dadurch verbreitet sich ein Gefühl der Unsicherheit - mit der Folge, dass einige sich nach Unterwerfung und nach einer neuen autoritären Ideologie und Praxis sehnen. Die Funktion einer solchen autoritären Ideologie hat der Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Erich Fromm mit der Aufgabe neurotischer Symptome verglichen.

“Diese Symptome", schreibt Fromm, “entspringen einer unerträglichen psy-chologischen Situation und bieten gleichzeitig eine Lösung, die das Weiterleben möglich macht. Aber diese Lösungen führen nicht zum Glück oder zur Entfaltung der Persönlichkeit, denn die Bedingungen, welche die neurotische Lösung notwendig machen, bleiben ja unverändert bestehen.”

Die Freiheit wird in der offenen Gesellschaft nur dann wirklich gefährlich für die Stabilität des Systems und für den sog. “Fremden", wenn sie in einen verantwortungslosen Egoismus mutiert. In dieser Hinsicht lässt sich leider feststellen, dass die liberalen Demokratien nicht immer dem Modell der “offenen" Gesellschaft Poppers entsprechen. Hier werden - auf Kosten der Verantwortung für sich und für die Anderen - die Werte der freien Selbstentfaltung des Einzelnen zu einseitig betont; eine Schieflage, die von den US-amerikanischen Kommunitariern zurecht kritisiert wird.

Das schreckliche Ereignis von Erfurt hat uns auf dramatische Weise daran erinnert, dass die liberale Demokratie einen verantwortungsvollen Umgang aller miteinander braucht, um richtig funktionieren zu können. Bundespräsident Johannes Rau hat in seiner Rede bei der Trauerfeier nicht umsonst vor einer “Verrohung" der Gesellschaft gewarnt und zu mehr Mitmenschlichkeit aufgerufen. Eine menschenfreundliche Gesellschaft lebe trotz des existierenden Konkurrenzkampfes von gegenseitiger Hilfe und der Solidarität mit den Schwachen, betonte Rau bei der Trauerfeier:

“Unser Zusammenleben darf nicht zu einem erbarmungslosen Konkurrenzkampf werden".

Durch den steigenden Verlust des Verantwortungssinns in Folge der Durchsetzung der neoliberalen Ideologie, die wirtschaftliche und berufliche Erfolge zum einzigen Lebenselixier macht, kann sich Gewalt und Kriminalität aller Art ungehindert verbreiten. Nicht selten werden Ausländer und Bürger fremder Herkunft als Sündenböcke für diese verkehrte Entwicklung missbraucht.

In unseren offenen Gesellschaften erweist sich aber auch die durch den postmodernen Prozess der Abgrenzung in Gang gesetzte Transformation des Gefühls der Fremdheit in Gleichgültigkeit als gefährlich. Zygmunt Baumann beklagt nicht umsonst den Anstieg der Indifferenz und der Verantwortungslosigkeit in den postmodernen Gesellschaften. Der “Fremde" wird vor allem in den Großstädten “moralisch irrelevant gemacht", indem man in ihm nur noch den interessanten oder den nützlichen Anderen sieht. Dabei kommt es aber zu einer Entschärfung von Fremdheit durch “Vergleichgültigung", die jederzeit einer feindseligen Stimmung weichen kann. Dies geschieht immer dann, wenn der Andere als gefährlich und deshalb erneut als “fremd" erscheint. Dann erwacht der Traum von einem “wehrhaften Raum" mit wirksam bewachten Grenzen; dann schottet man sich wieder ab. Auch die Bürokratisierung bringt, wie Kai-Uwe Hellmann feststellt, aufgrund der Vermehrung anonymer Ämter eine “Generalisierung der Fremdheit" mit sich, die zur Verbreitung einer gefährlichen Indifferenz gegenüber dem Anderssein führt

Glaubt man dem Soziologen Richard Sennett, wenn er behauptet, dass in unseren hochmodernen Gesellschaften immer neue Technologien entwickelt werden, um das Risiko zu mindern, durch Berührung irgend etwas oder irgend jemanden als fremd zu erfahren, dann muss man feststellen, dass die Aufhebung des Gefühls der Fremdheit selbst pathologische Züge aufweisen kann.

Trotz all dieser problematischen Entwicklungen in den modernen Demokratien ermöglicht nur die offene Gesellschaft einen Umgang mit dem Anderen, der durch Vielfalt und Toleranz charakterisiert ist. Dies ist ein bedeutender Unterschied zum Umgang mit dem “Fremden" in der geschlossenen Gesellschaft.

Der Umgang mit dem “Fremden" in der geschlossenen Gesellschaft

In der geschlossenen Gesellschaft wird die Fremdheit des Anderen betont und instrumentalisiert. Die geschlossene Gesellschaft ist ein Produkt der Sehnsucht des Menschen nach einer perfekter Ordnung und nach vollkommener Sicherheit. Um diese Ziele zu verwirklichen, wird eine größtmöglichste Homogenität der Auffassungen und derLebensbedingungen angestrebt und der Pluralismus weitgehend aufgehoben. In der geschlossenen Gesellschaft wird nicht ein gemeinsames, prinzipiell offenes Handeln angestrebt, sondern, wie Hannah Arendt richtig gesehen hat, die Verschmelzung des Einzelnen in eine Bewegung. Nicht Eigeninitiative und Verantwortung stehen hier als Werte im Vordergrund, sondern vielmehr die Gefolgschaft und die Eingliederung in eine undifferenzierte Masse. Der Tendenz nach wird dabei die Komplexität der Wirklichkeit so sehr reduziert, dass sich eine vernünftige politische Gestaltung der Realität als schwierig erweist. Die neurotische Suche nach einer völligen ordnenden Beherrschung von Welt und Zukunft führt in letzter Konsequenz zu einem in sich geschlossenen, veränderungsunfähigen totalitären System.

Da in der geschlossenen Gesellschaft meist eine vernünftige politische Gestaltung und ein dauerhafter wirtschaftlicher Aufschwung fehlen, werden zum Zweck des Zusammenhalts und des Machterhalts Feindbilder entworfen. Dies können - je nachdem - die sog. “Minderrassigen" oder die Bourgeoisie bzw. die “Kapitalisten" sein. Die Welt wird dann anhand einer einfachen Dichotomisierung zwischen Freund und Feind eingeteilt und geordnet. Eine neutrale Position ist nicht möglich. Die Einteilung der Welt in zwei antagonistische Lager führt prinzipiell dazu, die Fremdheit zu hypostasieren und zu verallgemeinern. Die Kollektividentität erhält dadurch den Charakter einer in sich geschlossenen idem-Identität. Sie wird zu einer Festung, die es mit allen Mitteln vor Angriffen von außen zu schützen gilt.

Das Gefühl der Fremdheit erhält aber auch im Inneren der geschlossenen Gesellschaft eine neue Qualität: Derjenige, der unter Verdacht steht, die “Sache" zu verraten, wird zum radikalen Fremden und zum inneren Feind. So verschmelzen allmählich die Größen Fremdheit und Feindschaft. Die geschlossene Gesellschaft erklärt nicht nur den Gegner, sondern auch den Fremden, d.h. hier den Nichtangepassten, zum Feind. Denn der, der nicht durch die politische Bewegung zum Eigenen gemacht werden konnte - also derjenige, der sich nicht völlig konform verhält und sich nicht der Bewegung anschließt -, bedroht durch seine einfache Existenz das System existentiell. Sein einfaches Dasein zeugt von der Möglichkeit einer anderen Ordnung. Hier haben wir erste Gründe für den defizitären Umgang mit dem Fremden in der geschlossenen Gesellschaft. In dieser wird aber nicht nur die vermeintliche Fremdheit des “Fremden" hervorgehoben und dieser als schädlicher Fremdkörper betrachtet. Weil eine solche Gesellschaft die Einzelnen weitgehend ihrer Autonomie und ihres Selbstwertgefühls beraubt und sie zu mehr oder weniger freiwilligen Helfern einer in Bewegung stehenden übermächtigen Maschinerie degradiert, schürt sie einen meist von den Einzelnen nicht wahrgenommenen Selbsthass, der sich jederzeit gegenüber Fremden in Form von Gewalt äußern kann. So entsteht - vergleichbar mit einem erhitzten Schnellkochtopf - ein Sammelbecken an Gewaltbereitschaft.

Die Auswüchse dieser gespeicherten Gewalt werden in der geschlossenen Gesellschaft vom politischen System bewusst zum Zweck der Herrschaftssicherung eingesetzt. In dieser Hinsicht ist es letztendlich irrelevant, ob die Gewalt durch das System verherrlicht oder ob im Gegenteil für den Frieden geworben wird. Selbst im letztgenannten Fall bleibt der Speicher an Gewaltbereitschaft immer gut gefüllt. In den “Gesetze der Thälmannpioniere" hieß es nicht von ungefähr: “Wir lieben und schützen den Frieden und hassen die Kriegstreiber.” “Wer die Liebe ehrt, der ehrt heutzutage auch den Hass", sang die Gruppe Renft in dem Lied “Wer die Rose ehrt". Außerdem trägt das durch das System erzeugte autoritäre Umfeld dazu bei, in der Bevölkerung ein Klima der Aggressivität, der Verdächtigung und des Misstrauens zu verbreiten.

Der Umgang mit dem “Fremden" nach dem Zusammenbruch einer geschlossenen Gesellschaft

Nach dem Zusammenbruch einer geschlossenen Gesellschaft - wenn der Deckel des unter Druck stehenden Schnellkochtopfs unkontrolliert in die Luft fliegt - wird Gewalt gegen sich selbst und zugleich auch gegen “Fremde" aller Art - Ausländer, Behinderte, Obdachlosen - freigesetzt. Schwache werden zum “Fremden" gemacht, und gehasst, da sie ein Spiegelbild des eigenen lädierten Ichs sind. Dies wird noch dadurch verschärft, dass das Prestige der eigenen Gruppe von den Einzelnen als negativ oder gefährdet wahrgenommen wird. Durch die Diskriminierung oder Verfolgung noch schwächerer Vergleichgruppen wird versucht, eine positive Be-wertung der Kollektividentität der eigenen Gruppe zu gewährleisten .

Der Psychoanalytiker Arno Gruen, der 1936 in die USA emigrieren musste und sich intensiv mit den Folgen der Shoah beschäftigt hat, nennt dieses Phänomen “die Weitergabe des Opferseins". Er bemerkt außerdem, dass die alten autoritären gesellschaftlichen Strukturen Menschen ein Gefühl der Zugehörigkeit vermittelt haben und denen eine Identität gegeben haben, die von sich aus keine oder nur wenig davon haben.

“Veränderungen der Strukturen", fügt er hinzu, “gehen für solche Menschen mit existentiellen Verunsicherungen einher. Dies führt in der Regel dazu, daß Krankheits- und Mortalitätsraten steigen oder/und verstärkt Gewalttätigkeit und Haß ausbrechen. Es geht also nicht allein um die Diskrepanz von reich und arm. Entscheidend ist, was eine Identität festigt, die nicht von innen kommt."

Bei dem Transformationsprozess von der geschlossenen zur offenen Gesellschaft werden außerdem die Einzelnen in eine Stresssituation versetzt. Wenn diese Belastungen psychisch nicht richtig verarbeitet werden können, entstehen Gefühle der Überforderung, die nicht selten zu xenophoben Reaktionen führen. Denn wie mein Magdeburger Kollege Karl Peter Fritzsche festgestellt hat, wirken Vorurteile in einem stressigen Umfeld entlastend. Sie erleichtern die Orientierung durch die Konstruktion einer überschaubaren Wirklichkeit und fördern in einer Zeit, in der die alten Orientierungspunkte und Verhaltensstandards über Nacht verschwunden sind, den Zusammenhalt eines Kollektivs durch die Stärkung des Wir-Gefühls. Wenn die Einzelnen nicht über genug Ressourcen verfügen, um Stress abzubauen (Bildung, positive Selbsteinschätzung, Werte und soziale Bindungen), sind sie oft nicht in der Lage, mit der neuen Situation richtig umzugehen, was wiederum Aggressivität und Gewaltbereitschaft verstärkt.

Der Umbruch von einer geschlossenen zu einer offenen Gesellschaft ist somit für den “Fremden" eine äußerst gefährliche Angelegenheit, und dies vor allem, wenn die Lage der Betroffenen sich nicht rasch verbessert und wenn ihr Selbstwertgefühl nicht schnell genug steigen kann. Sogar die offene Gesellschaft selbst kann dann in ihren Augen zum neuen Fremden und Feind werden. Denn hier wird erwartet, dass die Einzelnen selbst ihre gemeinsame offene Zukunft in die Hand nehmen. Wenn dies aus unterschiedlichen Gründen nicht möglich ist, kann es zu einer Steigerung des Selbsthasses kommen, die sich jederzeit in Fremdenhass verwandeln kann.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich behaupten, dass die offene Gesellschaft einen angemessenen Umgang mit dem “Fremden" ermöglicht, auch wenn dies in unseren modernen Gesellschaften leider nicht immer geschieht. Für den angemessenen Umgang mit dem Fremden muss das “Prinzip Verantwortung" (Hans Jonas) auf allen Ebenen der Gesellschaft ernstgenommen werden. Karl Popper betonte in einem Spiegel-Interview vom April 1992:

“Unsere Einstellung der Zukunft gegenüber muß sein: Wir sind jetzt verantwortlich für das, was in der Zukunft geschieht. Uns ist die Vergangenheit gegeben. Mit der können wir jetzt weiter nichts machen, obzwar wir auch für die Vergangenheit in einem anderen Sinn verantwortlich sind: nämlich zur Verantwortung gezogen zu werden für das, was wir gemacht haben. Für die Zukunft aber sind wir schon jetzt moralisch verantwortlich, und wir müssen ohne ideologische Brille das Beste tun - auch dann, wenn die Aussichten dafür nicht allzu günstig sind. Das Beste ist in ganz entscheidendem Sinn das am wenigsten Gewaltsame, das, was das Leiden, unnötiges Leiden, verringert."

Dies möchte ich uns allen ans Herz legen.

Aus der Vita von Prof. Dr. Yves Bizeul

Prof. Dr. Yves Bizeul wurde am 23. Februar 1956 in Paris geboren. Er studierte Politik- und Rechtswissenschaft in Nancy und Paris sowie evangelische Theologie in Paris, Tübingen und Straßburg. Seit 1995 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Politische Theorie und Ideengeschichte am Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften der Universität Rostock. Seine Veröffentlichungen behandeln u.a. Fragen der Kollektividentität in den hochmodernen Gesellschaften, der politischen Symbolik und der heutigen Transformation religiöser Gemeinschaften.

Wichtige Veröffentlichungen sind:
Yves Bizeul (Hrsg.): Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen, Berlin: Duncker & Humblot (Reihe "Ordo Politicus), 2000;
Yves Bizeul; Ulrich Bliesener; Marek Prawda (Hrsg.): Vom Umgang mit dem Fremden: Hintergrund, Definitionen, Vorschläge, Weinheim: Beltz Verlag, 1997;
Yves Bizeul: Gemeinschaften mit Eigenschaften?: Die Identität der deutschen und französischen Gemeinschaften und ihre Sozialisationspraktiken - ein Vergleich -, Baden-Baden: Nomos Verlag, 1993;
Yves Bizeul: L‘Identité protestante: Étude de la minorité protestante de France, Paris: Méridiens Klincksieck, 1991. x x

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