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Na­vi­ga­ti­on

Bun­des­prä­si­dent Frank-Wal­ter Stein­mei­er bei ei­ner Ge­denk­ver­an­stal­tung zum drei­ßigs­ten Jah­res­tag der Aus­schrei­tun­gen in Ros­tock-Lich­ten­ha­gen am 25. Au­gust 2022 in Ros­tock

Mel­dung vom 25.08.2022 - Rat­haus

Es gilt das ge­spro­che­ne Wort.

Ganz be­son­ders dank­bar bin ich, dass heu­te Men­schen wie Sie, Herr Thinh, und Sie, Herr Rich­ter, hier mit uns zu die­sem Ge­den­ken zu­sam­men­ge­kom­men sind – Men­schen, die in je­ner Nacht vom 24. auf den 25. Au­gust 1992 im Son­nen­blu­men­haus ein­ge­schlos­sen wa­ren. Wir al­le er­in­nern uns an die Bil­der der Flam­men, die aus den Fens­tern des Hau­ses schlu­gen, auf grau­sa­me Art be­ju­belt von tau­sen­den joh­len­den Men­schen da­vor. Aber Ih­re To­des­angst, Ihr Ge­fühl des Ver­las­sen­seins in je­nen Stun­den kön­nen wir nur er­ah­nen.

Hin­ter Ih­nen la­gen zu die­sem Zeit­punkt be­reits zwei Näch­te der Furcht. Näch­te, in de­nen Stei­ne in die Woh­nun­gen ge­flo­gen wa­ren. Ge­wor­fen von jun­gen Män­nern aus der hass­erfüll­ten Men­ge vor dem Haus. Po­li­zis­ten, viel zu we­ni­ge, viel zu schlecht aus­ge­rüs­tet, hat­ten die Men­schen im Haus, hat­ten Sie nicht be­schüt­zen kön­nen. Dut­zen­de Be­am­te wur­den im Ein­satz selbst ver­letzt.

Ich ver­su­che mir vor­zu­stel­len, wie es ge­we­sen sein muss. Jah­re­lang hat­ten die ehe­ma­li­gen viet­na­me­si­schen Ver­trags­ar­bei­ter hier in Lich­ten­ha­gen fried­lich mit ih­ren Nach­barn ge­wohnt. Und wie al­le Lich­ten­hä­ger konn­ten auch Sie seit Mo­na­ten die Men­schen se­hen, die auf der Su­che nach Asyl zur völ­lig über­füll­ten Zen­tra­len Auf­nah­me­stel­le ne­ben­an ka­men. Im sel­ben Haus, ei­nen Auf­gang wei­ter. Sie sa­hen die Men­schen vor dem Haus cam­pie­ren, vie­le von ih­nen Sin­ti und Ro­ma. Men­schen, die nichts hat­ten und hier auf al­les hoff­ten. Die La­ge war de­so­lat. Viel zu we­nig ge­schah, um sie zu ver­bes­sern. Und wie je­der in Lich­ten­ha­gen, so spür­ten auch Sie die Span­nung, die dann in je­nen Näch­ten in ro­he Ge­walt und Hass mün­de­te. Am 24. Au­gust brach­ten Bus­se die Asyl­be­wer­ber aus dem Wohn­ge­biet.

Dann, am Nach­mit­tag, sam­mel­ten sich die Men­schen vor dem Son­nen­blu­men­haus – jun­ge Leu­te, Schü­ler, Nach­barn, da­zu Rechts­ex­tre­mis­ten, die die Si­tua­ti­on für sich nutz­ten. Fern­seh­teams wa­ren da. Wie auf ei­nem Sport­fest ha­be es aus­ge­se­hen, so be­schrie­ben Sie es, Herr Thinh, als die Schein­wer­fer sich auf das Haus rich­te­ten. Die Aus­schrei­tun­gen gin­gen wei­ter. „Und wir wa­ren drin­nen in der Fal­le" – so ha­ben Sie es spä­ter er­zählt.

Mehr als 120 Men­schen wa­ren ein­ge­schlos­sen im Haus. Män­ner, Frau­en, Kin­der, ein Jour­na­lis­ten­team, der Aus­län­der­be­auf­trag­te der Stadt, Hel­fe­rin­nen. Von drau­ßen wur­den Mo­lo­tow­cock­tails ge­wor­fen. Und im­mer, wenn wie­der ein Feu­er lo­der­te, ju­bel­ten An­woh­ner. Es wa­ren Tau­sen­de, die zu­schau­ten, gröl­ten und klatsch­ten. Die Po­li­zei war zu schwach auf­ge­stellt, konn­te ih­nen nichts ent­ge­gen­set­zen. Die Feu­er­wehr konn­te nicht lö­schen. An­grei­fer dran­gen in das Haus ein, mit Stö­cken be­waff­net. Der men­schen­feind­li­che Hass war mit­ten in der Ge­sell­schaft an­ge­kom­men.

Es müs­sen un­end­lich furcht­ba­re Stun­den ge­we­sen sein. Stun­den, in de­nen Sie al­le in die­sem Haus To­des­angst ver­spü­ren muss­ten. Nur durch ei­ge­ne Kraft, durch Mut und et­was Glück in der Ka­ta­stro­phe konn­ten die ein­ge­schlos­se­nen Men­schen sich selbst ret­ten – erst aufs Dach, am En­de über ei­nen an­de­ren Auf­gang in Bus­se, in ei­ne Turn­hal­le. Ih­re To­des­angst nah­men sie mit. Und die An­grei­fer? Sie ha­ben an­ge­grif­fen, weil sie sich aus­ge­re­det hat­ten, es mit Men­schen zu tun zu ha­ben.

War­um er­zäh­le ich das heu­te hier so de­tail­reich? Vie­le von Ih­nen wa­ren da­bei. Sie ha­ben die­se Nacht er­lebt. Sie ha­ben sie über­lebt. Die Er­in­ne­run­gen dar­an ha­ben sie seit­her in ih­rem Le­ben be­glei­tet. Vie­le an­de­re, die nicht da­bei wa­ren – auch ich –, er­in­nern sich mit ei­nem dump­fen Schre­cken an die Bil­der je­ner Ta­ge. Das Bild vom Son­nen­blu­men­haus hat sich als Sym­bol in die Er­in­ne­rung un­se­res Lan­des ein­ge­brannt. Ros­tock-Lich­ten­ha­gen 1992: Das wa­ren die schlimms­ten ras­sis­ti­schen Über­grif­fe seit der Grün­dung un­se­res Lan­des. Es folg­ten wei­te­re hass­erfüll­te, men­schen­feind­li­che Ver­bre­chen. Es wa­ren fins­te­re Stun­den für un­ser Land.

Wenn wir über die­se Näch­te spre­chen, kom­men wir schnell an den Punkt, an dem je­mand sagt: Was hier pas­siert ist, war un­vor­stell­bar. Das sagt sich leicht, und es ist als Ge­fühl auch nach­voll­zieh­bar. Aber es ist falsch.

Wir ha­ben aus den dun­kels­ten Ka­pi­teln un­se­rer deut­schen Ge­schich­te ge­lernt: Die Idee von der Un­vor­stell­bar­keit ist ein ver­häng­nis­vol­ler Denk­feh­ler. Un­vor­stell­bar­keit ist ei­ne Schutz­for­mu­lie­rung, um sich nicht wei­ter da­mit be­fas­sen zu müs­sen, was ge­ra­de ge­schieht – oder wie ge­sche­hen konn­te, was ge­sche­hen ist. Wir dür­fen uns nicht hin­ter der Be­haup­tung von Un­vor­stell­bar­keit ver­ste­cken.

Die ent­schei­den­de Fra­ge ist doch: Wie konn­te es pas­sie­ren?

Die­se Fra­ge darf nicht in der Luft hän­gen­blei­ben. Sie zu be­ant­wor­ten be­deu­tet, prä­zi­se zu be­nen­nen, was war. Es be­deu­tet, Ur­sa­chen zu fin­den und Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men.

Ich weiß, es gibt in Ros­tock-Lich­ten­ha­gen nicht we­ni­ge, die sich wün­schen, dass man die Din­ge ru­hen las­se. Um­so fro­her und dank­ba­rer bin ich den vie­len, die sich mitt­ler­wei­le seit Jahr­zehn­ten – und in den ers­ten Jah­ren sehr oft ge­gen gro­ße Wi­der­stän­de – für die Auf­ar­bei­tung und Er­in­ne­rung en­ga­gie­ren. Ich konn­te mir heu­te bei mei­nem Be­such in Lich­ten­ha­gen ei­nen Ein­druck da­von ver­schaf­fen.

Mit je­dem Jah­res­tag in Lich­ten­ha­gen steigt bei ei­ni­gen auch die Sor­ge, dass die Stadt, ja dass der gan­ze Os­ten im­mer aufs Neue stig­ma­ti­siert wer­de. Sie hier ha­ben Ih­re Er­fah­rung da­mit ge­macht.

Ich sa­ge es ganz deut­lich: Der Kern die­ser Fra­ge ist nicht der nach Ost und West. Der Kern ist die Er­kennt­nis, wo­zu ei­ne Ge­sell­schaft im schlimms­ten Fall in der La­ge ist – und wie sie sich im bes­ten Fall da­ge­gen wapp­nen kann, dass es nicht wie­der ge­schieht.

Die Aus­schrei­tun­gen von Ros­tock-Lich­ten­ha­gen wa­ren ei­ne Ka­ta­stro­phe mit An­sa­ge. Die­se Ka­ta­stro­phe pas­sier­te auch mit Blick auf die ge­sam­te Bun­des­re­pu­blik nicht aus dem Nichts. Die Aus­schrei­tun­gen die­ser Ta­ge ge­die­hen auf dem Bo­den ei­ner teils hass­erfüll­ten De­bat­te. Der Staat hät­te ge­warnt sein müs­sen: Schon am 25. No­vem­ber 1990 hetz­ten und schlu­gen Neo­na­zis in Ebers­wal­de den jun­gen an­go­la­ni­schen Ver­trags­ar­bei­ter Ama­deu An­to­nio zu To­de. Und ein Jahr vor Ros­tock, im Sep­tem­ber 1991, hat­te ein Mob viet­na­me­si­sche Ver­trags­ar­bei­ter in Ho­yers­wer­da at­ta­ckiert. Flücht­lings­wohn­hei­me wur­den an­ge­grif­fen. An­woh­ner ap­plau­dier­ten. Die An­ge­grif­fe­nen muss­ten mit Bus­sen eva­ku­iert wer­den. 32 Men­schen wur­den ver­letzt.

Die Aus­schrei­tun­gen von Ros­tock wa­ren al­so vor­stell­bar, sie wa­ren ver­meid­bar. Der Staat hat­te die Men­schen an ver­schie­de­nen Stel­len al­lein­ge­las­sen. Al­lein­ge­las­sen wa­ren schon Wo­chen zu­vor die Asyl­su­chen­den, die mit Kind und Ke­gel vor dem Haus cam­pier­ten. Al­lein­ge­las­sen wa­ren in je­nen Wo­chen auch die An­woh­ner. Ih­re Kla­gen über die un­über­seh­ba­ren und un­halt­ba­ren Zu­stän­de vor der Zen­tra­len Auf­nah­me­stel­le für Asyl­su­chen­de wur­den nicht ge­hört. Ih­re Fra­ge, wie man die Si­tua­ti­on ver­bes­sern wer­de, wur­de nicht be­ant­wor­tet.

All das ist um­so un­ver­zeih­li­cher, weil zeit­gleich al­le auf die Si­tua­ti­on schau­ten. Man konn­te se­hen, was pas­sier­te: Die Zei­tun­gen be­rich­te­ten schon Ta­ge vor­her von an­ony­men Dro­hun­gen, von Ge­sprä­chen mit An­woh­nern. Von ei­ner „hei­ßen Nacht", in der „für Ord­nung" ge­sorgt wer­den sol­le. „Die Ro­ma wer­den auf­ge­klatscht", hieß es da. Und noch et­was wur­de an­ge­kün­digt: „Die Leu­te wer­den aus den Fens­tern schau­en und Bei­fall klat­schen." Und dann pas­sier­te, was pas­sier­te.

Al­lein­ge­las­sen wa­ren in je­ner Nacht aber vor al­lem die rund 120 Men­schen im Haus Num­mer 19. Es ent­setzt mich, wenn ich hö­re, dass die­se Men­schen den Rat be­ka­men, die Vor­hän­ge zu­zu­zie­hen, da­mit man sie nicht ent­deckt. Es war al­so klar, dass zu die­sem Zeit­punkt nie­mand den Schutz der ver­blie­be­nen Men­schen als obers­te Prio­ri­tät be­griff. Der Rechts­staat, der die Pflicht hat­te, sie zu be­schüt­zen, hat sie al­lein­ge­las­sen. Und so wa­ren sie ei­ner ent­fes­sel­ten Men­ge von Men­schen aus­ge­setzt, von de­nen vie­le in den Jah­ren zu­vor ih­re Nach­barn wa­ren.

Was in Ros­tock ge­schah, ist ei­ne Schan­de für un­ser Land. Für die­se Schan­de trägt die Po­li­tik gro­ße Mit­ver­ant­wor­tung.

Man darf die Er­eig­nis­se von Ros­tock nicht sin­gu­lär und auch nicht los­ge­löst von der da­mals ak­tu­el­len po­li­ti­schen Dis­kus­si­on be­trach­ten. Die Näch­te von Lich­ten­ha­gen wa­ren ein furcht­ba­rer Aus­wuchs in ei­ner gan­zen Wel­le von men­schen­feind­li­chen Aus­schrei­tun­gen und von An­schlä­gen auf Mi­gran­ten, bei de­nen vie­le Men­schen ge­tö­tet wur­den. Das Son­nen­blu­men­haus hat sich auch des­halb in un­ser kol­lek­ti­ves Ge­dächt­nis ein­ge­brannt, weil es die Fern­seh­bil­der gab. Weil man über Ta­ge prak­tisch in Echt­zeit dem Schre­cken bei­wohn­te. Vie­le der bun­des­weit 2.277 An­grif­fe auf Mi­gran­ten, wel­che die Si­cher­heits­be­hör­den al­lein 1992 zähl­ten, sind un­ter ei­ner Schicht des Ver­ges­sens be­gra­ben. Aber sie sind pas­siert. In Lich­ten­ha­gen gab es wie durch ein Wun­der kei­ne To­ten. Nach Lich­ten­ha­gen ge­scha­hen die Mord­an­schlä­ge von Mölln, von Hün­xe, von So­lin­gen, von Lü­beck. In Mölln gab es drei Mord­op­fer, in So­lin­gen wur­den fünf An­ge­hö­ri­ge der Fa­mi­lie Genç er­mor­det, in Lü­beck ka­men bei ei­nem Brand­an­schlag auf ein Asyl­be­wer­ber­heim zehn Men­schen zu To­de. Ei­ne Spur rech­ter Ge­walt zog sich durch Deutsch­land.

Den Bo­den für die­se Wel­le der von Rechts­ex­tre­mis­ten be­feu­er­ten Ge­walt be­rei­te­te auch die po­li­tisch auf­ge­heiz­te De­bat­te. Rechts­ra­di­ka­le Par­tei­en la­gen im Auf­wind. Die Rhe­to­rik auch der Par­tei­en im de­mo­kra­ti­schen Spek­trum war res­sen­ti­ment­ge­la­den. Auf kla­re Ver­ur­tei­lun­gen der Aus­schrei­tun­gen war­te­te man da­ge­gen lan­ge.

Im Land selbst wa­ren es dann glück­li­cher­wei­se die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger, die ei­ne Ant­wort auf die Aus­schrei­tun­gen fan­den. Sie ka­men zu Zehn­tau­sen­den nach Ros­tock, um ihr Er­schre­cken, ih­re Er­schüt­te­rung und ih­re So­li­da­ri­tät zu zei­gen. Zu Hun­dert­tau­sen­den ver­sam­mel­ten sie sich im Win­ter 1992 über­all im Land zu Lich­ter­ket­ten. Die­se Bür­ge­rin­nen und Bür­ger zeig­ten, was wich­tig ist: Zu­sam­men­halt, Fried­fer­tig­keit, Ge­mein­schaft.

Auch vie­le Ros­to­cke­rin­nen und Ros­to­cker ha­ben sich ge­fragt, was die Ant­wort auf je­ne Näch­te sein kann. Sie, Herr Thinh, ha­ben spä­ter da­von be­rich­tet, wie Sie sich ge­mein­sam Ge­dan­ken dar­über mach­ten, wie Sie nach die­sen Ta­gen wei­ter in Ros­tock le­ben kön­nen. In die­sen Ta­gen, so sag­ten Sie, ent­stand die Idee, den Ver­ein Diên Hông zu grün­den. Ih­re Ant­wort auf den Hass war: das Mit­ein­an­der. Für Ih­re Be­harr­lich­keit und Ih­re Zu­ver­sicht bin ich vol­ler Be­wun­de­rung und Re­spekt.

Ih­nen al­len, die Sie in die­sem Haus über­lebt ha­ben, ist es zu­al­ler­erst zu ver­dan­ken, dass ein Zu­sam­men­le­ben wei­ter mög­lich ist. Wir sind Ih­nen dank­bar für die­se Kraft.

Heu­te konn­te ich mir auch den bud­dhis­ti­schen Tem­pel der viet­na­me­si­schen Ge­mein­de an­se­hen. Welch ei­nen wun­der­schö­nen, fried­li­chen Ort der in­ter­kul­tu­rel­len Be­geg­nung ha­ben Sie hier in Lich­ten­ha­gen ge­schaf­fen!

Die Stadt Ros­tock und die Bür­ger­schaft ha­ben enor­me An­stren­gun­gen un­ter­nom­men, um die Er­eig­nis­se auf­zu­klä­ren, an sie zu er­in­nern – und sich ge­gen ei­ne Wie­der­ho­lung des Schre­ckens zu wapp­nen. Es ist auch an ei­nem sol­chen Tag wie heu­te wich­tig, deut­lich zu ma­chen: Der Näch­te von Lich­ten­ha­gen zu ge­den­ken be­deu­tet nicht, die wun­der­ba­re, viel­fäl­ti­ge Han­se­stadt Ros­tock auf die­se Er­eig­nis­se re­du­zie­ren zu wol­len. Im Ge­gen­teil: Es be­deu­tet, die ei­ge­ne Ge­schich­te ernst zu neh­men und aus ihr zu ler­nen.

Das Stadt­teil- und Be­geg­nungs­zen­trum, das schon 1993 er­rich­tet wur­de, um Ju­gend­li­chen und jun­gen Er­wach­se­nen ei­nen An­lauf­punkt zu bie­ten, ist zu ei­nem wich­ti­gen Zen­trum für al­le Lich­ten­hä­ger ge­wor­den. In­zwi­schen hat der Stadt­teil ei­ne Quar­tiers­ma­na­ge­rin und ist zum För­der­ge­biet des Bun­des- und Lan­des­pro­gramms „So­zia­le Stadt" ge­wor­den. Bei mei­nem Be­such vor­hin im SBZ ha­ben mir Schü­le­rin­nen und Schü­ler der be­nach­bar­ten Hun­dert­was­ser-Ge­samt­schu­le von ih­rem All­tag hier be­rich­tet.

Sie sind in dem Al­ter, in dem ei­ni­ge je­ner Ju­gend­li­chen vor dem Son­nen­blu­men­haus da­mals wa­ren. Aber heu­te ha­ben sie ei­nen ge­mein­sa­men Ort; und Zu­sam­men­halt, Ge­mein­sam­keit, Re­spekt, sie brau­chen im­mer ei­nen Ort.

Die Näch­te von Ros­tock-Lich­ten­ha­gen sind nicht ver­ges­sen.

Auch die Ge­walt von da­mals, je­ne Spur rech­ten Ter­rors ist lei­der im­mer noch da. Sie zieht sich, in Wel­len, durchs Land. Wir sa­hen sie in der furcht­ba­ren Ter­ror­se­rie des so­ge­nann­ten Na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Un­ter­grun­des. Wir sa­hen sie 2015 in Hei­den­au und Frei­tal. Sie zieht sich durch Kas­sel, Hal­le und Ha­nau. Viel zu lan­ge ha­ben wir die­se Spur nicht ernst ge­nug ge­nom­men. Da­bei hät­ten wir schon aus Ros­tock-Lich­ten­ha­gen die rich­ti­gen Leh­ren zie­hen müs­sen. Sie sind bis heu­te ak­tu­ell, und drei von ih­nen will ich hier fest­hal­ten.

Wir wis­sen es ei­gent­lich al­le: Wor­te kön­nen Waf­fen sein. Mit Wor­ten kann man das Ge­walt­po­ten­zi­al ei­ner Ge­sell­schaft ak­ti­vie­ren – und man kann es in­stru­men­ta­li­sie­ren. Da­mals war die po­li­ti­sche De­bat­te so, dass sie die Ge­walt be­feu­er­te. Wir ha­ben auch in jün­ge­rer Zeit schmerz­lich er­lebt, wie aus Wor­ten Ta­ten wer­den – der töd­li­che Ter­ror­an­schlag ge­gen den Kom­mu­nal­po­li­ti­ker Wal­ter Lüb­cke er­in­nert uns an die mör­de­ri­sche Ra­di­ka­li­sie­rungs­kraft der Wor­te. Die Hä­me, die sich nach sei­nem Tod in so­zia­le Netz­wer­ke er­goss, er­in­nert uns dar­an, wie kurz der Weg zur Ent­mensch­li­chung des Ge­gen­übers im di­gi­ta­len Raum sein kann.

Es gilt al­so, ver­bal ab­zu­rüs­ten. Ich be­ob­ach­te mit Sor­ge, wie sich die Gren­ze zwi­schen dem Sag­ba­ren und dem Un­sag­ba­ren ver­schiebt. Dies zu ver­hin­dern muss, bei al­ler Not­wen­dig­keit zur Kon­tro­ver­se, die obers­te Pflicht de­rer sein, die sich zu Wort mel­den. Po­li­ti­ker, Me­di­en, Pu­bli­zis­ten sind hier in ei­ner ganz be­son­de­ren Ver­ant­wor­tung. Und für uns al­le gilt es, den Me­cha­nis­men der so­zia­len Me­di­en zu wi­der­ste­hen, wel­che aus­ge­rech­net das wi­der­lichs­te ver­ba­le Schwert mit grö­ß­ter Reich­wei­te be­loh­nen.

Die zwei­te Leh­re be­trifft je­den von uns ganz di­rekt – und sie be­trifft auch die­je­ni­gen in po­li­ti­scher Ver­ant­wor­tung: Der Staat muss je­der­zeit al­les ihm Mög­li­che tun, je­den ein­zel­nen Bür­ger in der of­fe­nen Ge­sell­schaft ge­gen An­grif­fe zu schüt­zen. Viel zu lan­ge ha­ben wir die Ge­fahr des rech­ten Ter­rors nicht ernst ge­nug ge­nom­men. Ein Staat, der zu lan­ge zu­schaut oder un­ter­re­agiert, schützt die Ge­fähr­de­ten nicht aus­rei­chend vor den Ge­fähr­dern. Ein Staat, der im ent­schei­den­den Mo­ment ab­we­send ist, nimmt furcht­ba­re Fol­gen in Kauf. Die Not­wen­dig­keit, un­se­re De­mo­kra­tie wehr­haft zu ma­chen, ist ei­ne zen­tra­le Er­kennt­nis aus un­se­rer Ge­schich­te, auch un­se­rer jün­ge­ren und jüngs­ten Ge­schich­te. Wir dür­fen das nicht ver­ges­sen.

Fürs fried­li­che Zu­sam­men­le­ben al­ler­dings kommt es auch auf je­den Ein­zel­nen an. In Ros­tock-Lich­ten­ha­gen, in Hei­den­au und bei den jüngs­ten Aus­schrei­tun­gen wäh­rend der Pro­tes­te in der Pan­de­mie galt: Es war je­der­zeit mög­lich, Nein da­zu zu sa­gen.

Es war mög­lich, nicht zu ap­plau­die­ren, wenn ein Brand­satz durchs Fens­ter flog. Es war mög­lich, nicht in den Sprech­chor ein­zu­fal­len, der drei Näch­te lang er­tön­te. Es war nicht nur mög­lich: Der Ver­zicht auf Het­ze und Ge­walt ist in ei­ner of­fe­nen Ge­sell­schaft die ers­te Bür­ger­pflicht.

Die drit­te Leh­re aus Lich­ten­ha­gen ist für uns heu­te be­son­ders wich­tig: Wenn ei­ne Ge­sell­schaft un­ter Ver­än­de­rungs­druck steht, dann bie­tet sich der Weg der Ra­di­ka­li­sie­rung an, weil er ein­fa­che Lö­sun­gen vor­gau­kelt. Die ein­fachs­te al­ler Lö­sun­gen ist die Su­che nach ei­nem ver­meint­lich Schul­di­gen. Die Kon­fron­ta­ti­on mit ei­ner un­ge­wis­sen Zu­kunft scheint die­sen Re­flex zu be­stär­ken: die Su­che nach dem Glied in der Ge­sell­schaft, das zum Sün­den­bock ge­macht wird. Oft reicht da­für Ver­schie­den­heit aus. Aus ihr wird dann Feind­schaft kon­stru­iert. Es ist der zer­stö­re­rischs­te Re­flex für ei­ne of­fe­ne Ge­sell­schaft.

Für uns hei­ßt das: Das Ri­si­ko, dass die Spur der Ge­walt nicht en­det, ist hoch. Ge­ra­de jetzt, in ei­ner Zeit, die uns her­aus­for­dert wie kei­nes der letz­ten Jahr­zehn­te, ei­ner Zeit, die uns viel ab­ver­langt, in der Ge­wohn­tes in Fra­ge steht und Ein­schrän­kun­gen dro­hen.

Das Ri­si­ko, Op­fer zu wer­den von kol­lek­ti­ver Wut, Het­ze und Ge­walt, tra­gen aber nicht al­le in glei­cher Wei­se. Das gilt für Lich­ten­ha­gen, für Mölln, für Hal­le, für Ha­nau. Aus die­ser Er­kennt­nis folgt ei­ne ge­sell­schaft­li­che Pflicht. Es gilt für uns al­le, den­je­ni­gen Schutz zu bie­ten, die po­ten­zi­ell Op­fer sind. Es gilt für uns al­le, wach­sam zu sein für haar­fei­ne Ris­se im Zu­sam­men­le­ben, wehr­haft ge­gen die Fein­de die­ser Ge­sell­schaft und fried­fer­tig im Um­gang mit­ein­an­der und so­li­da­risch mit den Be­droh­ten. Wir dür­fen sie nie­mals im Stich las­sen.

Das ist die Leh­re aus Lich­ten­ha­gen.