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Na­vi­ga­ti­on

An­spra­che von Ober­bür­ger­meis­ter Ar­no Pö­ker an­läss­lich der Ge­denk­ver­an­stal­tung zum Volks­auf­stand 17. Ju­ni 1953

Pres­se­mit­tei­lung vom 12.06.2003

(Es gilt das ge­spro­che­ne Wort)

An­re­de

zur heu­ti­gen Ge­denk­ver­an­stal­tung in Er­in­ne­rung an den Volks­auf­stand vom 17. Ju­ni 1953 möch­te ich Sie in der Au­la der Ros­to­cker Uni­ver­si­tät recht herz­lich be­grü­ßen. Ich freue mich, dass so zahl­rei­che Ver­tre­ter der Ein­la­dung des Lan­des­be­auf­trag­ten für die Un­ter­la­gen des Staats­si­cher­heits­diens­tes der ehe­ma­li­gen Deut­schen De­mo­kra­ti­schen Re­pu­blik, des Kreis­ver­ban­des Ros­tock des Deut­schen Ge­werk­schafts­bun­des, der In­dus­trie­ge­werk­schaft Me­tall Ros­tock so­wie der Han­se­stadt Ros­tock ge­folgt sind. Ganz be­son­ders be­grü­ßen möch­te ich Dr. Joa­chim Gauck. Die Ros­to­cker ken­nen Sie als Pas­tor in Evers­ha­gen so­wie als wich­ti­ge Per­sön­lich­keit bei den De­mons­tra­tio­nen im Herbst 1989. Auch heu­te nach Ih­rer Tä­tig­keit als Bun­des­be­auf­trag­ter für die Sta­si­un­ter­la­gen sind Sie ei­ne wich­ti­ge Stim­me ge­gen das Ver­ges­sen und für De­mo­kra­tie und Frei­heit. Herz­lich will­kom­men in der Han­se­stadt Ros­tock!

Mei­ne sehr ver­ehr­ten Da­men und Her­ren, wir er­in­nern mit der heu­ti­gen Ver­an­stal­tung an den 17. Ju­ni 1953, an ei­nen Tag, des­sen Auf­ar­bei­tung bis heu­te nicht end­gül­tig ab­ge­schlos­sen ist. Da­mit ver­bun­den ist die Tat­sa­che, dass die­ses Er­eig­nis bis heu­te un­ter­schied­lich be­wer­tet wird. Das ist in ei­nem Land, das sich nicht nur der Mei­nungs­frei­heit ver­pflich­tet fühlt, nichts au­ßer­ge­wöhn­li­ches.

Mei­ne Da­men und Her­ren, wie ge­sagt, das ist die Frei­heit. Ich hal­te es mit Ro­sa Lu­xem­burg: "Frei­heit ist auch im­mer die Frei­heit der an­ders Den­ken­den." Üb­ri­gens ein Zi­tat, das in der Ge­schich­te der DDR noch be­son­de­re Be­deu­tung er­lan­gen soll­te...

Mei­ne Da­men und Her­ren, in Ros­tock ha­ben sich schwer­punkt­mä­ßig die Ar­bei­ter des Die­sel­mo­to­ren­wer­kes so­wie tags dar­auf zahl­rei­che Ar­bei­ter und An­ge­stell­te der War­now- und der Nep­tun-Werft an Streiks be­tei­ligt. Ros­tock war der Stand­ort der ma­ri­ti­men Wirt­schaft in der DDR. Die War­now-Werft war mit fast 10.000 Mit­ar­bei­tern der grö­ß­te Be­trieb im Nor­den der DDR, die Nep­tun-Werft zähl­te über 8.000 Mit­ar­bei­ter: hier streik­ten Ar­bei­ter des Schiff­baus ge­gen die so­ge­nann­te Ar­bei­ter- und Bau­ern­re­gie­rung. Über die For­de­run­gen nach Rück­nah­me der Norm­er­hö­hun­gen, bes­se­ren Ar­beits- und Le­bens­be­din­gun­gen u.ä. stieß man sehr schnell auf die ei­gent­li­chen Wi­der­sprü­che und for­der­te "den Rück­tritt der Re­gie­rung", "freie Wah­len", "Auf­he­bung des so­zia­lis­ti­schen Wett­be­werbs" so­wie freie Be­richt­erstat­tung über die Er­eig­nis­se. Es wird deut­lich, dass es den Ar­bei­tern um mehr ging.
Üb­ri­gens ist es Tat­sa­che, dass sich die Ar­bei­ter auf durch­aus vor­han­de­ne Grund­rech­te der DDR-Ver­fas­sung von 1949 be­ru­fen konn­ten.

Ros­tock war si­cher­lich auf­grund sei­ner zen­tra­len Be­deu­tung ein Schwer­punkt im Nor­den, nicht ver­ges­sen will ich die Ar­bei­te­rin­nen und Ar­bei­ter in Barth, Wis­mar und Stral­sund. An all die­sen Or­ten ging es um ein Le­ben in De­mo­kra­tie und Frei­heit. Es war ein Aus­druck feh­len­den Ver­trau­ens in die so­ge­nann­te Re­gie­rung des Vol­kes, die sich von nun an mehr als be­wusst war, dass sie sich nur mit Hil­fe der "so­wje­ti­schen Freun­de", wie es in den Un­ter­la­gen hieß, so­wie ei­nes ge­wal­ti­gen Staats­si­cher­heits­diens­tes an der Macht hal­ten kann.

Mei­ne sehr ver­ehr­ten Da­men und Her­ren, der 17. Ju­ni 1953 hat ei­ne gro­ße Be­deu­tung für die deut­sche Ge­schich­te. Zum ers­ten Ma­le nach dem Schre­cken des Krie­ges und des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus ha­ben Ar­bei­ter in den Städ­ten, Bau­ern auf dem Land ge­gen die so­ge­nann­te ei­ge­ne "Ar­bei­ter-und- Bau­ern-Macht" und für De­mo­kra­tie und Frei­heit de­mons­triert.

Ver­tre­ter des Mit­tel­stan­des, Chris­ten, Stu­den­ten und vie­le an­de­re ha­ben sich an die­sen De­mons­tra­tio­nen be­tei­ligt. Es wa­ren kei­ne Ar­bei­ter­un­ru­hen - es war ein Volks­auf­stand. Die­ser Auf­stand wur­de mit Hil­fe der Be­sat­zungs­macht nie­der­ge­schla­gen. Die Par­al­le­len zu 1956 (Un­garn) über 1968 (CSSR) ja bis zu Ver­hän­gung des Kriegs­rechts in Po­len (1981) sind auf­fäl­lig. Sie zei­gen ei­nes ganz deut­lich, man kann De­mons­tra­tio­nen nie­der­schla­gen, aber ge­walt­sa­me Nie­der­schla­gun­gen ha­ben den Drang nach ei­nem Le­ben in Frie­den und Frei­heit noch nie aus­ge­löscht, son­dern im­mer ver­stärkt. Auch das ist ei­ne Leh­re aus der Ge­schich­te. Und wir ver­dan­ken es auch wach­sen­der Ver­nunft nach 1985 in Mos­kau und Bu­da­pest, dass die De­mons­tra­tio­nen En­de der acht­zi­ger Jahr in Ost­eu­ro­pa fried­lich zum Sturz des kom­mu­nis­ti­schen Sys­tems ge­führt ha­ben.

Mei­ne Da­men und Her­ren, wir er­in­nern nicht nur an den Volks­auf­stand in der DDR, son­dern ge­den­ken auch der Op­fer, die ihr Le­ben in ih­rem Drang nach Frei­heit und De­mo­kra­tie ver­lo­ren, wir den­ken an die Men­schen, die zum Teil lang­jäh­ri­ge Haft­stra­fen ver­bü­ßen muss­ten und an die An­ge­hö­ri­gen, die häu­fig Re­pres­sa­li­en aus­ge­setzt wa­ren.

Mei­ne sehr ver­ehr­ten Da­men und Her­ren, im Zu­sam­men­hang mit der Auf­ar­bei­tung der deut­schen Ge­schich­te möch­te ich Ih­nen, Herr Dr. Gauck, in Ih­rer frü­he­ren Funk­ti­on als Bun­des­be­auf­trag­ter so­wie Ih­nen, Herr Mo­thes, als Lan­des­be­auf­trag­ter für Ih­re wich­ti­ge und ver­ant­wor­tungs­vol­le Ar­beit dan­ken. So­wohl die Bun­des­be­auf­trag­te mit ih­ren Au­ßen­stel­len als auch der Lan­des­be­auf­trag­te blei­ben in ih­rer Funk­ti­on enorm wich­tig. Auf­ar­bei­tung ist ei­ne Vor­aus­set­zung für Ver­ste­hen von Ge­schich­te so­wie für Ver­söh­nung. Ich äu­ße­re hier die kla­re Er­war­tung, dass so­wohl Bund als auch Land an die­sen un­ab­hän­gi­gen In­sti­tu­tio­nen fest­hal­ten. Dar­über hin­aus dan­ke ich dem DGB und der IG Me­tall, dass sie sich so­fort als Mit­ge­stal­ter die­ser Ge­denk­ver­an­stal­tung be­reit­ge­fun­den ha­ben. Ja, ich darf sa­gen, die Mit­ar­beit war so­wohl für Rein­hard Knisch (DGB) als auch Rü­di­ger Klein (IG Me­tall) selbst­ver­ständ­lich.

Freie Ar­beit­neh­mer­ver­tre­tun­gen sind eben­falls Vor­aus­set­zung ei­ner plu­ra­lis­ti­schen Ge­sell­schaft, auch das ist ei­ne wich­ti­ge Leh­re so­wie Ver­pflich­tung aus den Er­eig­nis­sen des 17. Ju­ni 1953. Mei­ne sehr ge­ehr­ten Da­men und Her­ren, als Ober­bür­ger­meis­ter ei­ner frei­en und de­mo­kra­ti­schen Han­se­stadt Ros­tock ste­he ich zur Ver­ant­wor­tung ge­gen­über der Ge­schich­te un­se­rer Stadt. An den Er­eig­nis­sen um den 17. Ju­ni 1953 in Ros­tock ha­ben im Rah­men ih­rer Ein­bin­dung in das po­li­ti­sche Sys­tem der DDR auch Ver­ant­wort­li­che des da­ma­li­gen Ra­tes der Stadt mit­ge­wirkt. Hier ist auch im Na­men von Ros­to­cke­rin­nen und Ros­to­ckern Un­recht be­gan­gen wor­den. Ich möch­te hier und heu­te al­len Ros­to­cke­rin­nen und Ros­to­ckern, die im Ju­ni 1953 für De­mo­kra­tie und Frei­heit de­mons­triert ha­ben, im Na­men der Han­se­stadt Ros­tock für den Mut und die Be­reit­schaft recht herz­lich dan­ken.