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Der schwierige Umgang mit “Lichtenhagen

Pressemitteilung vom 23.08.2002



Im Frühjahr 1994 hatte ich als Oberbürgermeister von Rostock der Bürgerschaft einen Bericht zu geben über die Auswertung des bürgerschaftlichen Untersuchungsberichtes zum Geschehen vor dem Sonnenblumenhaus im Ortsteil Lichtenhagen im August 1992. Mehr als zwanzig Monate waren seit dem Ereignis vergangen, das die Aufmerksamkeit der Welt so auf Rostock gezogen hatte, dass in Amerika schon der Begriff “rostocking" für Gewalttätigkeiten gegen Fremde aufkam. Der wichtigste Punkt meines Berichtes war nach meiner Erinnerung der Dank an die Gruppe vietnamesischer Mitbürger, die mit einer deutsch-vietnamesischen Begegnungsstätte am Ort der schlimmen Taten ein Symbol der Verständigung gesetzt hatten. Das scheint mir auch heute noch erwähnenswert.

Eine große grundsätzliche Debatte der Bürgerschaft, die sich an meinen Bericht angeschlossen haben könnte, ist mir nicht erinnerlich. Auch die Protokolle, die ich eingesehen habe, lassen das nicht erkennen. Schon bei der Einbringung des Untersuchungsberichtes in die Bürgerschaft im November 1993 hatte es Bemühungen gegeben, auf eine Debatte zu verzichten. Ich erhielt 1994 sogar den Rat, das Geschehen von 1992 positiv zu sehen, Rostock sei dadurch in der Welt bekannt geworden. Das sei ein Gewinn, den es zu nutzen gelte. Da zeigten sich Schwierigkeiten im Umgang mit “Lichtenhagen", an die zu erinnern ist, wenn man bewerten will, was bis heute und mit der heutigen Veranstaltung für den Umgang mit dem Geschehen von 1992 gewonnen wurde.

Zwanzig Monate, die bei meinem Bericht seit “Lichtenhagen" vergangen waren, erschienen in der ersten Hälfte der neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts hier im Osten Deutschlands eine sehr lange Zeit. Eben vierzig Monate lag damals das Ende der DDR zurück. Und was war seither alles geschehen? Womit hatten wir uns in diesen Monaten beschäftigt und geplagt? Thomas Mann hat einmal darauf aufmerksam gemacht, dass unser Zeitempfinden von der Dichte der Ereignisse abhängt. Eine Fülle von Ereignissen lässt in der Erinnerung die Zeit lang erscheinen, während ereignisarme Zeiten als kurz erinnert werden. Die Monate seit dem Sommer 1989 waren hier in Rostock eine ereignisreiche Zeit, und also schienen die Untaten von Lichtenhagen 1994 schon weit zurückzuliegen und nur noch Geschichte zu sein. Der Innenminister von 1992 war entlassen, mehrere Rostocker Polizeioffiziere von damals waren versetzt, die Stadt hatte inzwischen auch einen anderen Oberbürgermeister, und nicht zuletzt: die Täter waren ermittelt, glücklicherweise vor allem Auswärtige, und die sahen nun ihren Strafen entgegen. Das Kapitel “Lichtenhagen" schien für Rostock erledigt zu sein. Ich hatte bei meinem Amtsantritt 1993 allerdings erklärt, dass nach meiner Einschätzung “Lichtenhagen" uns immer wieder beschäftigen wird, dass wir von dem Stigma nicht frei kommen werden. Und das will ich im Folgenden näher begründen.

“Lichtenhagen" hat Rostock tief getroffen, aber es betrifft nach meiner festen Überzeugung nicht Rostock allein, sondern ganz Deutschland. Das zu akzeptieren, fällt manchen unserer Landsleute schwer. Ich erinnere ich mich in diesem Zusammenhang an den Besuch des Geschäftsführers einer großen gesamtdeutschen Organisation, die in Rostock ihre Jahreshauptversammlung plante und vom Rostocker Oberbürgermeister statt eines Grußwortes eine Entschuldigung für “Lichtenhagen" erwartete. Ich vermute, der Geschäftsführer, der sich selbstverständlich zur politischen Klasse Westdeutschlands zählte, fühlte sich durch “Lichtenhagen" beleidigt. Das Bild von der geläuterten deutschen Nation, das die westdeutsche Politik mit viel Mühe der Welt vermittelt hatte, hat in Lichtenhagen einen dunklen Fleck abbekommen.

“Lichtenhagen" findet deshalb bis heute so große Aufmerksamkeit, weil es für die Welt die Wiederkehr des “schrecklichen Deutschen" war, der im Gewand des Biedermanns oder der treuherzigen Mutter ungerührt Gewalt gegen Mitmenschen hinnimmt, wenn er selbst nur verschont bleibt. Überall in der Bundesrepublik hätte er auftauchen können, in Hoyerswerda, in Lübeck, in Gelsenkirchen oder in irgendeiner anderen deutschen Stadt. In allen genannten Städte hat es vor oder nach “Lichtenhagen" gewalttätige, ja mörderische, Angriffe auf Fremde gegeben. Xenonphobie ist auch nicht auf Deutschland beschränkt. Mit Gewalt gegen Fremde müssen sich fast alle europäischen Gesellschaften auseinandersetzen. Das Besondere, das besonders Schreckliche, das Unfassbare, das “Lichtenhagen" aus der schlimmen Kette von fremdenfeindlichen Gewalttaten heraushebt, ist die Verweigerung von Solidarität vieler Nachbarn der Bedrohten, die sich bis zu offenen Beifallsbekundungen für die Gewalttäter gesteigert hat. Diese Nachbarn waren die “schrecklichen Deutschen". Von aufgeklärten couragierten Bürgern wird erwartet, dass sie Mitmenschen in Not und Bedrohung beistehen und sich gegen Gewalttäter wenden. Als vorbildlich gelten unsere dänischen Nachbarn, die unter deutscher Nazi-Besatzung fast alle Juden im Land mit mutigen Aktionen gerettet haben, nicht nur Juden dänischer Staatsangehörigkeit, sondern auch aus Deutschland zu ihnen geflohene Menschen jüdischer Herkunft. Das Versagen an Menschlichkeit und bürgerlicher Tugend ist das eigentliche Problem von “Lichtenhagen", das uns bis heute zur Auseinandersetzung mit diesen Tagen zwingt. Gerade weil Rostock eher als eine linke und weltoffene Stadt gilt, wurde das in der Welt als Alarmsignal in Bezug auf ganz Deutschland verstanden.

Da in entfernteren Gegenden der Welt nur die allergrößten Ereignisse in Deutschland wahrgenommen werden und nicht alle Geschehnisse, die unser Bild von dem Land bestimmen, lag Lichtenhagen von draußen betrachtet beispielsweise sehr nahe bei der Reichspogromnacht vom 9.November 1938, in der viele Deutsche der Gewalt gegen ihre jüdischen Mitbürger tatenlos zugesehen haben. Und es wurde daher 1992 besorgt gefragt, ob dieses Volk denn noch immer nicht begriffen hat, was Menschlichkeit erfordert.

Aber es waren nicht nur die Nachbarn in Lichtenhagen, deren Verhalten in der Welt mit Erschrecken zur Kenntnis genommen wurde, es war auch die Reaktion der politischen Repräsentanten. Erwartet wurde, dass sie sich schützend vor die von Gewalt bedrohten Menschen gestellt und ein Beispiel an Zivilcourage geboten hätten, das die Nachbarn zum Nachdenken hätte bringen können. Mit Zuständigkeitsfragen und Recht auf Urlaub sind sie bis heute schnell bei der Hand - “Urlaub" ist eines der häufigst verwandten Orte in dem Untersuchungsbericht - , der Frage nach politischer Verantwortung wird noch immer ausgewichen. Allein der damalige Sozialsenator Wolfgang Zöllick hat wenigstens versucht, auf die Menschen mäßigend einzuwirken. Im Übrigen wurde “Lichtenhagen" als Angelegenheit von Polizei und Feuerwehr betrachtet. Der Ausländerbeauftragte der Stadt und ein paar mutige Sozialarbeiterinnen, also schlichte städtische Angestellte aus den zweiten Glied, haben den Mut gezeigt, den man von deutschen politischen Repräsentanten nach allem, was in der Vergangenheit geschehen ist, erwarten durfte. Nicht ohne Grund hat man in der Welt damals auch nach der Reife der politischen Klasse inDeutschland gefragt. Und daran kommen dann noch immer Zweifel, wenn beobachtet wird, dass fremdenfeindliche Neigungen in diesem Land politisch instrumentalisiert werden. Das sind Fragen, die uns bis heute zur Auseinandersetzung mit “Lichtenhagen" zwingen.

Die wiederholten und bisher immer gescheiterten Versuche von Rechtsextremisten, hier in Rostock große Veranstaltungen zu organisieren, einerseits und andererseits die Resonanz von Aktionen wie “Bunt statt braun" sind für uns Beweis und Versicherung, dass “Lichtenhagen" für Rostock nicht typisch war und sich nicht wiederholen wird. Von außen sieht das allerdings anders aus. Aus der Entfernung wird das gesellschaftliche Engagement gegen Rechts, sei es in Rostock, Hamburg oder Berlin, kaum wahr genommen. Je weiter entfernt der Beobachter lebt, desto mehr wird das Bild von wenigen Höhepunkten bestimmt, die im Falle Deutschlands im zwanzigsten Jahrhundert oft finsterste Taten sind. Während der eine deutsche Staat vor 1990 Wiedergutmachung früheren Unrechts anstrebte und der andere eine radikale antifaschistische Wendung zum Ziel hatte, stellen sich viele in der Welt noch immer die Frage, wie der staatlich organisierte Massenmord an jüdischen Mitbürgern und europäischen Nachbarvölkern durch den deutschen Staat möglich war und weshalb die Masse der Deutschen dabei weggesehen hat.

Draußen erinnert sich mancher ganz gut, dass in den 74 Jahren zwischen 1871 und 1945, in denen Deutschland ein einiger Staat war, Europa sich oft gegen deutsche Machtansprüche wehren musste und über zehn Jahre unter Kriegen gelitten hat, wobei der letzte mit der größten Barbarei in der Geschichte der Menschheit verbunden war. Wir sollten uns nicht beschweren, dass viele froh waren, wenn dieses Volk sich in der Klage über seine Teilung erschöpfte. Wir sollten niemals vergessen, dass 1990 mit dem 2+4-Vertrag unsere Geschichte eine unerwartet glückliche Wendung zur Erneuerung der Einheit genommen hat, die Skepsis aber geblieben ist, ob die Deutschen sich wirklich von Grund auf gewandelt haben. Dieser Skepsis hat “Lichtenhagen" Nahrung gegeben. Und diese Skepsis lässt Menschen immer wieder nach unserem Umgang mit “Lichtenhagen" fragen. Deshalb können wir das Geschehen von 1992 nicht als Geschichte abtun, sondern müssen es als Herausforderung für Gegenwart und Zukunft annehmen, ob uns das nun gefällt oder nicht. x x

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