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Na­vi­ga­ti­on

Er­leb­nis­be­richt ei­nes Zeit­zeu­gen

Pres­se­mit­tei­lung vom 21.11.2002


Nguy­en do Thinh

Sehr ge­ehr­ter Herr Mi­nis­ter,
sehr ge­ehr­te Frau Ab­ge­ord­ne­te,
sehr ge­ehr­ter Herr Prä­si­dent,
sehr ge­ehr­ter Herr Ober­bür­ger­meis­ter,
sehr ge­ehr­te Se­na­to­ren,
sehr ge­ehr­te Da­men und Her­ren,
lie­be Mit­glie­der, lie­be Gäs­te aus Fern und Nah,

ich weiß nicht, ob ich heu­te in der La­ge bin, Ih­nen die Er­in­ne­rung an die Au­gust­ta­ge 1992 noch ein­mal zu schil­dern, denn seit No­vem­ber 2001 wur­den der Aus­län­der­be­auf­trag­te, Herr Dr. Wolf­gang Rich­ter, und ich fast wö­chent­lich von Jour­na­lis­ten da­nach be­fragt, be­son­ders in der letz­ten Zeit, als der
10. Jah­res­tag nä­her rück­te.

Ich möch­te mit den schö­nen Er­in­ne­run­gen an­fan­gen. Und zwar mit den ers­ten Er­in­ne­run­gen, die ich ge­macht ha­be, als ich nach Ros­tock kam. Da war ei­ne Deutsch­leh­re­rin, die uns für die ers­ten Ta­ge, an de­nen wir ge­ar­bei­tet ha­ben, Geld ge­ge­ben hat, da wir noch kei­nen Lohn be­kom­men hat­ten. Da­mit konn­ten wir uns ei­ne Wo­che lang über Was­ser hal­ten.

Da wa­ren Kol­le­gen, die mit mir auf dem ho­hen Kran stan­den und mir die ers­ten Wor­te in Deutsch bei­ge­bracht ha­ben. Ich kann mich noch ziem­lich ge­nau er­in­nern. Da war ein Kol­le­ge, der stand mit mir auf dem ho­hen Kran und zeig­te auf ei­nen Baum und sag­te: "Thinh, sprich mir bit­te nach, da ist ein Baum, - so hei­ßt der -, ein Baum be­sitzt ei­ne Kro­ne, der hat vie­le Blät­ter und Äs­te."

Es wa­ren da auch Kol­le­gin­nen, die mich je­des Weih­nachts­fest ein­lu­den, weil sie wuss­ten, dass ich al­lei­ne war und mich so be­han­delt ha­ben, als ob sie mei­ne Mut­ter, mei­ne Schwes­ter wä­ren. Und ich glau­be, sol­che schö­nen Er­in­ne­run­gen blei­ben mir auch nach
20 Jah­ren er­hal­ten, da­mals war ich 20, 10 Jah­re be­vor es in Lich­ten­ha­gen pas­sier­te.

Auch möch­te ich ei­nen Kol­le­gen er­wäh­nen, der mir ge­zeigt hat, wie man sich hier auch zu DDR-Zei­ten durch­set­zen konn­te und zwar woll­te ich da­mals ei­nen Be­ruf er­ler­nen, ir­gend­was Stu­die­ren und das klapp­te ewig nicht. Bis die­ser Kol­le­ge, der war in der Ge­werk­schaft tä­tig, ei­ne Un­ter­schrif­ten­samm­lung ge­macht hat und sich da­mit durch­set­zen konn­te, so dass ich ei­nen Stu­di­en­platz be­kom­men konn­te. Und ich den­ke, ich möch­te Ih­nen von sol­chen Er­in­ne­run­gen er­zäh­len. Dies ist wich­tig, um mei­ne Mo­ti­va­ti­on zu ver­ste­hen, war­um ich heu­te - 10 Jah­re nach dem Brand - noch im­mer die­se Ar­beit ma­che. Ich glau­be, die ge­sell­schaft­li­che Si­tua­ti­on kann sich zwar än­dern, aber ich glau­be die­se mensch­li­chen Qua­li­tä­ten muss man erst her­aus­kit­zeln.

Mei­ne Zeit in der DDR ver­lief re­la­tiv gut, bis 1988/89, als ich merk­te, dass sich die ers­ten An­zei­chen von of­fe­ner Aus­län­der­feind­lich­keit zeig­ten. Mit dem nä­her­rü­cken­den Tag
der Deut­schen Ein­heit wuchs die Un­si­cher­heit, aber auch die Hoff­nung auf ei­ne neue Ge­sell­schafts­ord­nung, die wir als Aus­län­der mit­er­le­ben durf­ten. Und da­bei ha­be ich aber auch schon ge­merkt, dass vie­le ost­deut­sche Kol­le­gen un­schö­ne Wör­ter zu uns ge­sagt ha­ben, bei­spiels­wei­se: "Wir ha­ben bald die Ein­heit, wir ha­ben bald die BRD, und die DDR hat Euch her­ge­holt, al­so sollt Ihr auch lang­sam ge­hen! War­um geht Ihr im­mer noch nicht?"

Nun kom­me ich zu den Ta­gen im Au­gust 1992. Be­reits Wo­chen vor­her gab es Mel­dun­gen in den Me­di­en. Da­mals war ich im Erd­ge­schoss des Son­nen­blu­men­hau­ses in ei­ner Be­ra­tungs­stel­le für Viet­na­me­sen ge­mein­sam mit 2 Kol­le­gen tä­tig, die über ei­ne ABM-Maß­nah­me vom See­ha­fen or­ga­ni­siert wur­de.

Wäh­rend die­ser Zeit wur­den die Auf­gän­ge 18 und 19 in der Meck­len­bur­ger Al­lee auf­ge­teilt. Die Viet­na­me­sen ha­ben zu­nächst in bei­den Auf­gän­gen ge­wohnt. Sie wur­den nach­her in die Nr. 19 ver­legt, da­mit die Nr. 18 frei wur­de für die Zen­tra­le Auf­nah­me­stel­le für Asyl­be­wer­ber. Täg­lich ha­ben wir ge­se­hen, wie die Asyl­be­wer­ber hin­ge­karrt wor­den sind, aus den Bus­sen her­aus­ge­schmis­sen wur­den und zu­nächst gar nicht wuss­ten, was sie tun sol­len, bis sie ih­re Lands­leu­te aus der Zen­tra­len Auf­nah­me­stel­le tra­fen. Dann ha­ben sie mit­be­kom­men, dass sie sich erst beim Pfört­ner an­mel­den muss­ten, um sich über­haupt für das Asyl­ver­fah­ren an­mel­den zu kön­nen.

Ich ha­be mich da­mit auch nicht sehr viel be­schäf­ti­gen kön­nen, da sich un­se­re Auf­ga­be auf die Grup­pe von viet­na­me­si­schen Ver­trags­ar­bei­tern aus dem See­ha­fen be­schränk­te. Täg­lich ha­be ich aber ge­se­hen, dass je­den Mor­gen ein Wach­mann ei­nen Gar­ten­schlauch hin­ge­hal­ten hat, da­mit die Asyl­be­wer­ber - Kin­der und Frau­en - mit ih­ren Plas­tik­fla­schen ein biss­chen Was­ser für den Tag ho­len konn­ten. Wenn wir ge­ar­bei­tet ha­ben, la­gen sie schon vor un­se­rem Bü­ro un­ter dem Bal­kon. Sie ha­ben nach Was­ser und nach Brot und Bröt­chen ge­bet­telt. Wir ha­ben ver­sucht, ih­nen zu hel­fen, so gut wir konn­ten. Und die­ser Zu­stand war ja nicht mehr aus­zu­hal­ten, we­der für die Asyl­be­wer­ber, die da drau­ßen kam­pie­ren muss­ten, oh­ne jeg­li­che Ver­sor­gung oder sa­ni­tä­re Ein­rich­tun­gen, und auch nicht für die Ein­woh­ner, die in un­mit­tel­ba­rer Nä­he des Hei­mes ge­wohnt ha­ben.
Ich per­sön­lich hat­te nichts da­ge­gen, dass es ei­nen Pro­test von Lich­ten­hä­ge­nern gab, der auch deut­lich ma­chen soll­te, dass der Zu­stand so nicht mehr zu ak­zep­tie­ren war, dass die­ser Zu­stand men­schen­un­wür­dig war und ei­ne Lö­sung ge­fun­den wer­den muss­te. Aber dass die Stim­mung nach­her so um­schlug, da­mit ha­be ich, hat­ten wir, nicht ge­rech­net.

Am Sonn­abend bin ich erst nach ei­nem Ein­kauf zum Wohn­heim ge­fah­ren, denn ich ha­be da­mals nicht in der Meck­len­bur­ger Al­lee 19 ge­wohnt, son­dern in Evers­ha­gen. Die La­ge war re­la­tiv ru­hig. Bis 14.00 Uhr ka­men nur Kin­der mit Fahr­rä­dern, ha­ben ge­guckt, was los ist. Ein Be­kann­ter, den ich in der Kauf­hal­le traf, frag­te mich: "Thinh, was ist denn hier los? Ich ha­be ge­hört, dass die Leu­te mit Ka­lasch­ni­kows hier­her kom­men wol­len und Euch al­le um­brin­gen wol­len. Ist da was dran?" Ich sag­te: "Ich ha­be die­se Ge­rüch­te auch ge­hört, aber wir wer­den erst mal ab­war­ten, was da pas­siert."

Be­vor es dun­kel wur­de, ver­sam­mel­ten sich die ers­ten Pro­tes­tie­ren­den vor dem Haus. Herr Bür­ger­meis­ter Zöllick ver­such­te mit ih­nen zu dis­ku­tie­ren - oh­ne Er­geb­nis. Da merk­te ich, dass die Stim­mung im­mer an­ge­spann­ter wur­de, bis nach­her die ers­ten Stei­ne flo­gen und die ers­ten Po­li­zis­ten in Som­mer­klei­dung, zum Teil oh­ne Schutz­schild, da­stan­den und trotz­dem im­mer noch ver­sucht ha­ben, mit ih­rem kör­per­li­chen Ein­satz das Haus und uns zu schüt­zen.

Die ers­te Nacht ver­lief wie durch ein Wun­der mit we­nig Ver­let­zun­gen un­ter den Po­li­zis­ten. Die Fens­ter­schei­ben wa­ren bis zur 6. Eta­ge in Bruch ge­gan­gen. Ein chi­ne­si­scher Koch, der uns be­su­chen woll­te, wur­de auch ver­letzt; sein Au­to wur­de an­ge­zün­det.

Am nächs­ten Tag ge­gen 16.00 Uhr hat­ten sich schon Tau­sen­de von Men­schen an­ge­sam­melt. Der Bun­des­grenz­schutz bil­de­te ei­nen Ring rund um das Haus. Ich wuss­te im ers­ten Mo­ment nicht, wie ich da hin­kom­men könn­te. Des­halb bin ich mit mei­nem Wa­gen durch die Men­ge bis zum Haus ge­fah­ren. Da ging ei­ne äl­te­re Frau spa­zie­ren und als sie sah, dass ich in das Haus ge­hen woll­te, sag­te sie: "Sind Sie denn le­bens­mü­de, was wol­len Sie denn da noch rein, wenn Sie noch weg­ge­hen kön­nen. Ge­hen Sie weg! Das ist Selbst­mord." Ich ging trotz­dem rein, und die Frau hat nur mit dem Kopf ge­schüt­telt.

Die zwei­te Nacht ver­lief ähn­lich wie die ers­te Nacht, nur mit ei­ner Ver­än­de­rung, dass die An­griffs­wel­le schon or­ga­ni­sier­ter war, in der ers­ten Nacht war sie da­ge­gen noch un­or­ga­ni­siert. Und ich sah auch, dass viel mehr Ju­gend­li­che ge­kom­men wa­ren, um zu ran­da­lie­ren. Ich sah auch, dass sie jetzt nicht mehr ge­zielt das Asyl­be­wer­ber­heim an­ge­grif­fen ha­ben, son­dern da schon kei­nen Un­ter­schied mehr ge­macht ha­ben zwi­schen dem Heim der Asyl­be­wer­ber und dem Heim der Viet­na­me­sen. Da­durch kann ich ver­mu­ten, dass die Ju­gend­li­chen, die dort die bei­den Häu­ser an­ge­grif­fen ha­ben, nicht mehr Lich­ten­hä­ge­ner, nicht mehr Ros­to­cker wa­ren, son­dern auch viel­mehr Aus­wär­ti­ge, was man an den Au­to­kenn­zei­chen se­hen konn­te. Der Kampf zwi­schen Po­li­zei und Ran­da­lie­rern - das war für mich wie ein Spiel zwi­schen Katz‘ und Maus. Die Po­li­zis­ten wur­den zu­rück­ge­drängt, rück­ten wie­der vor. Die­ses wech­sel­te stän­dig, und ei­ne be­son­de­re Tak­tik der Po­li­zei war nicht er­kenn­bar.

Ein Er­eig­nis in die­ser Nacht hat sich mir be­son­ders ein­ge­prägt. Ge­gen 2.00 Uhr mor­gens rie­fen mich mei­ne Lands­leu­te. Bis da­hin ha­ben wir im­mer ab­wech­selnd auf dem Bal­kon ge­stan­den und die La­ge be­ob­ach­tet. Sie sag­ten: "Thinh; es gibt was Neu­es, geh mal gu­cken!"
Ich stand auf dem Bal­kon und sah zu­nächst ei­ne Men­schen­men­ge, die auf uns zu­kam und da­bei et­was ge­ru­fen hat. Die Ru­fe ha­be ich zu­nächst nicht ver­stan­den. Aber als die nä­her ka­men, konn­ten wir dann se­hen, dass sie sich ein­an­der un­ter­ge­hakt hat­ten und im­mer wie­der ge­ru­fen ha­ben: "Hoch die in­ter­na­tio­na­le So­li­da­ri­tät!" Das war ei­ne lin­ke Ge­gen­de­mo. Die ju­gend­li­chen Ran­da­lie­rer hat­ten Re­spekt vor die­sem Block, ob­wohl die nur zwei­hun­dert ge­we­sen wa­ren. Die­ser Block hat­te die Ran­da­lie­rer aus­ein­an­der­ge­trie­ben, oh­ne Ge­walt an­zu­wen­den. Sie hat­ten nur ei­nen Feh­ler ge­macht, dass sie sich vor dem Haus ge­trennt ha­ben. Aber da­durch wur­den sie ge­schwächt und von den Po­li­zis­ten fest­ge­nom­men und weg­trans­por­tiert. Und nach­dem sie weg wa­ren, ging das Katz- und Maus-Spiel zwi­schen Po­li­zei und Ran­da­lie­rern wei­ter.

Die ers­ten aus­län­der­feind­li­chen Pa­ro­len ha­be ich auch ge­hört, aber noch nicht so in die­ser In­ten­si­tät wie am Mon­tag­abend. Am Tag ha­ben wir ver­sucht wie­der al­les in den Woh­nun­gen auf­zu­räu­men, die Fens­ter­schei­ben, die zer­schla­gen wor­den sind, wur­den re­pa­riert. An die­sem Ta­ge wa­ren vie­le Jour­na­lis­ten dort, Fern­seh­ka­me­ras - die nicht mehr zu zäh­len wa­ren. Aber so­bald es dun­kel wur­de, sind die­se Ka­me­ra­lich­ter an­ge­gan­gen. Es war wie ei­ne Sport­fest­stim­mung drau­ßen, und wir wa­ren drin­nen wie in der Fal­le. Mit­ten in ei­nem In­ter­view mit ei­nem Ka­me­ra­team des ZDF von "Kenn­zei­chen D" wur­den wir un­ter­bro­chen und muss­ten in die obe­ren Eta­gen ge­hen. Herr Dr. Rich­ter, hat nach­dem wir hoch­ge­gan­gen sind, die Ver­stän­di­gung mit der Po­li­zei über­nom­men. Vor­her konn­ten wir noch von un­se­rem Bü­ro aus te­le­fo­nie­ren, aber das Bü­ro wur­de durch Stein­wür­fe zer­stört, so dass wir uns gar nicht mehr in die­sem auf­hal­ten konn­ten. Und so hat Dr. Rich­ter wei­ter ver­sucht von der Pfört­ner­lo­ge mit der Po­li­zei und der Feu­er­wehr zu te­le­fo­nie­ren. Und dann hat er uns ge­sagt, dass er kei­ne Chan­ce mehr sieht, dass wir run­ter­ge­hen kön­nen, weil die Ran­da­lie­rer schon mit Mo­lo­tow­cock­tails, mit Waf­fen, Stei­nen, Stö­cken im Hau­se sind. Er sag­te, dass es jetzt nur noch ei­nen Weg für uns ge­ben wür­de, näm­lich zur Zen­tra­len Auf­nah­me­stel­le, die zu die­sem Zeit­punkt schon leer­ge­zo­gen war. Uns wur­de von ei­nem Mit­glied der Bür­ger­schaft ge­sagt, dass wir al­le Gar­di­nen zu­ma­chen und uns so ver­hal­ten soll­ten, als ob das Wohn­heim der Viet­na­me­sen auch leer wä­re, da­mit die Ran­da­lie­rer nicht ein lee­res Haus in Brand set­zen. Aber das war ein Irr­tum, nach­dem wir fest­ge­stellt ha­ben, dass die Ran­da­lie­rer schon im Haus wa­ren. Sie ha­ben im­mer wei­ter ver­sucht, hö­her zu kom­men, um uns zu krie­gen. Von der 7. Eta­ge aus ha­ben wir die Feu­er­lö­scher ge­nom­men, und ein paar Jungs sind bis in die 4. bzw. 5. Eta­ge ge­gan­gen, um die­se Feu­er­lö­scher leer zu sprü­hen, da­mit der Weg ver­sperrt wird. Der Fahr­stuhl wur­de still­ge­legt, da­mit kei­ner mehr mit dem Fahr­stuhl fah­ren konn­te. Ei­ne drit­te Grup­pe ver­such­te, oben die Dach­lu­ke auf­zu­ma­chen. Ei­ne vier­te Grup­pe ver­such­te, in der 7. Eta­ge den Durch­gang zur Zen­tra­len Auf­nah­me­stel­le auf­zu­bre­chen, in der Hoff­nung, dass das Haus der Asyl­be­wer­ber noch nicht brann­te. Aber als wir dort an­ka­men, ka­men uns be­reits Wach­schutz­be­am­te mit dem Haus­ver­wal­ter ent­ge­gen. Sie er­zähl­ten uns, dass sie schon von den Ran­da­lie­rern bei den Lösch­ar­bei­ten be­hin­dert wor­den wa­ren. Da­mit war klar, dass wir auch über das Asyl­be­wer­ber­heim nicht mehr her­aus­kom­men konn­ten. Wir ha­ben die Auf­ga­ben so ver­teilt, dass je­de Grup­pe für sich ver­su­chen soll­te, in Auf­gang 18 und 19 die Dach­lu­ken auf­zu­bre­chen, und dann die an­de­ren her­aus­zu­ho­len.

Ich weiß nicht, wie uns das ge­lin­gen konn­te, denn es war ei­gent­lich un­mög­lich, die­se di­cken Ei­sen­tü­ren mit so pri­mi­ti­ven Mit­teln wie Beil, Ham­mer und ei­nem He­bel auf­zu­bre­chen. Von in­nen ist das un­mög­lich. Doch wie durch ein Wun­der ha­ben wir es ge­schafft. Als wir dann al­le oben stan­den, ha­ben ein paar von uns ver­sucht, über die Dach­rän­der zu gu­cken, die wur­den gleich zu­rück­ge­holt. Mei­ne Kol­le­gin hat­te ge­sagt: "Wenn sie uns hier oben ent­de­cken, dann kom­men sie hier­her, und es wird To­te ge­ben." Wir ha­ben uns dann oben hin­ge­hockt und erst ein­mal nach­ge­zählt, ob al­le Woh­nungs­mit­glie­der an­we­send wa­ren. Da wur­de fest­ge­stellt, dass noch nicht al­le da wa­ren. Da bin ich noch ein­mal her­un­ter ge­lau­fen und ha­be an den Tü­ren ge­don­nert und ge­ru­fen: "Die Dach­lu­ke ist auf, Ihr könnt jetzt auf das Dach. Kommt raus!" Aber ich bin nur bis zur 10. Eta­ge ge­kom­men, da war mir die Sicht durch den Rauch schon ge­nom­men. Ich ha­be nichts mehr ge­se­hen und auch kei­ne Luft mehr be­kom­men. Und so muss­te ich wie­der hoch. Wir ha­ben uns auf dem Dach zu­sam­men­ge­kau­ert. Ein paar Ju­gend­li­che, deut­sche Ju­gend­li­che, sind wei­ter­ge­gan­gen, um die Dach­lu­ken von an­de­ren Auf­gän­gen auf­zu­he­beln, um mit den Be­woh­nern der an­de­ren Auf­gän­ge zu spre­chen, ob sie uns vor­über­ge­hend ei­ne Un­ter­kunft ge­wäh­ren. Denn wir ha­ben im­mer noch Angst ge­habt, dass die Ran­da­lie­rer auf das Dach kom­men und uns in die Tie­fe stür­zen. Gleich­zei­tig ha­ben wir in der Dach­lu­ke von Nr. 18 Ge­räu­sche ge­hört, wo wir ver­mu­tet ha­ben, dass das nur von den Wach­män­nern der Zen­tra­len Auf­nah­me­stel­le bzw. von den Kol­le­gen von "Kenn­zei­chen D" kom­men konn­te. Mit be­son­de­rer Vor­sicht ha­ben wir die Lu­ke ge­öff­net, da­mit die­se auch her­aus­kom­men konn­ten. Nach ei­ner Wei­le kam die Nach­richt bei uns an, dass die Dach­lu­ke in der 15 auf ist und ein, zwei Fa­mi­li­en be­reit wa­ren, Frau­en und Kin­der bei sich auf­zu­neh­men. So ha­ben wir die Frau­en und Kin­der in die Woh­nung der Fa­mi­lie von Horst Kreutz­feldt ge­bracht. Von hier ha­ben Dr. Wolf­gang Rich­ter und Tho­mas Eu­ting von "Kenn­zei­chen D" ver­sucht, mit der Po­li­zei und Feu­er­wehr zu te­le­fo­nie­ren, um die Ab­trans­port­maß­nah­men für uns zu or­ga­ni­sie­ren.

Ge­gen 4.00 Uhr mor­gens war es vor­bei. Dann sind wir zum Au­to vom "Kenn­zei­chen D" - Team. Da hat uns ei­ner der Jour­na­lis­ten ge­fragt, Herrn Dr. Rich­ter und mich, ob wir nicht zum Nep­tun-Ho­tel Ge­burts­tag fei­ern woll­ten? Ich hab zu­nächst nicht ver­stan­den, wer denn nun Ge­burts­tag hat. Nach­dem er dann ge­sagt hat, dass wir heu­te al­le Ge­burts­tag hät­ten, ha­be ich das dan­kend ver­neint, denn ich wuss­te zu die­sem Zeit­punkt nicht, wo mei­ne Lands­leu­te ge­blie­ben wa­ren. Herr Dr. Rich­ter brach­te mich dann zur Turn­hal­le Ma­ri­en­ehe. Dort wur­den wir auf Feld­bet­ten un­ter­ge­bracht. Uns wur­de ge­sagt, dass wir kein Licht ma­chen sol­len, denn es wa­ren noch ein­zel­ne Grup­pen von Rech­ten un­ter­wegs. Und wenn be­kannt wird, dass wir hier sind, be­steht die Ge­fahr, dass die von Lich­ten­ha­gen ab­rü­cken, und die Turn­hal­le in Ma­ri­en­ehe das neue Ziel sein wür­de.

Die Stadt­ver­wal­tung hat zu die­sem Zeit­punkt ge­sagt, dass der Brand ge­löscht ist, al­le Tü­ren für uns of­fen sind, und wir oh­ne Angst in un­se­re Woh­nun­gen zu­rück­keh­ren kön­nen. Aber mir konn­te kei­ner er­zäh­len, dass wir mit ka­put­ten Tü­ren si­cher sein konn­ten. Aus die­sem Grund ha­ben wir uns ge­wei­gert zu­rück­zu­ge­hen. Drei Ta­ge hat es ge­dau­ert, bis die Stadt ge­sagt hat, ja sie sieht ein, dass die Ge­fahr im­mer noch be­steht und hat dann ent­schie­den, dass wir im Land­schul­heim Niex für die nächs­ten zwei Wo­chen un­ter­ge­bracht wer­den sol­len.

Und in die­ser Zeit ha­ben wir uns zu­sam­men­ge­setzt und uns Ge­dan­ken ge­macht, ob wir wei­ter­hin in Ros­tock le­ben kön­nen, wie wir wei­ter­hin in Ros­tock le­ben kön­nen, und was wir ma­chen müs­sen, um in Ros­tock le­ben zu kön­nen. Und in die­sen Ta­gen war die Idee mit der Ver­eins­grün­dung ent­stan­den. Wir ha­ben uns ge­sagt, dass ein pas­si­ves Ver­hal­ten uns nicht mehr nützt.

Im­mer wie­der sah ich vor mir, wie ich in die­sen schwe­ren Stun­den in den obe­ren Eta­gen des Hau­ses stand und in die­se Men­schen­mas­se guck­te. Und ich sah in die­sen Ge­sich­tern die­se Freu­de, je­des Mal wenn ein Stein ein Fens­ter traf, je­des Mal wenn ei­ne Fla­sche in Flam­men auf­ging. Ich sah da ei­ne Freu­de, die ich nicht er­klä­ren kann. Ich glau­be nicht, dass das "Freu­de zum Mor­den" war. Das kann ich ein­fach nicht glau­ben.

Mit Hil­fe - auch von deut­schen Freun­den - ha­ben wir die Idee vom Ver­ein in die Tat um­ge­setzt. Am 24. Ok­to­ber 1992 ha­ben wir mit 67 Viet­na­me­sen und Deut­schen im Ju­gend­al­ter­na­tiv­zen­trum den Ver­ein "Diên Hông - Ge­mein­sam un­ter ei­nem Dach" ins Le­ben ge­ru­fen. Der Ver­ein steht für die ge­gen­sei­ti­ge Ak­zep­tanz zwi­schen Deut­schen und Viet­na­me­sen so­wie Deut­schen und Aus­län­dern, mit dem Ziel, der so­zia­len und be­ruf­li­chen In­te­gra­ti­on von Viet­na­me­sen, und der Ver­ein steht auch für ei­ne För­de­rung und Er­hal­tung der viet­na­me­si­schen Kul­tur und Tra­di­ti­on.

Im We­sent­li­chen hat un­ser Ver­ein die­se Ziel­rich­tung bis heu­te auch bei­be­hal­ten, mit ei­ner Er­wei­te­rung. In der Ver­eins­sat­zung hei­ßt es seit 1997 nicht mehr "die För­de­rung ge­gen­sei­ti­ger Ak­zep­tanz zwi­schen Deut­schen und Viet­na­me­sen", son­dern jetzt "zwi­schen Ein­hei­mi­schen und Zu­ge­wan­der­ten". Und wir wid­men uns nicht mehr nur der so­zia­len und be­ruf­li­chen In­te­gra­ti­on von Viet­na­me­sen, son­dern der In­te­gra­ti­on al­ler Zu­ge­wan­der­ter, die im Ar­beits­amts­be­zirk Ros­tock le­ben und ar­bei­ten.

10 Jah­re ist das her, vor 10 Jah­ren stand ich ziem­lich al­lei­ne oben in Lich­ten­ha­gen und wuss­te nicht, an wen ich mich wen­den soll­te, als un­ser Le­ben in Ge­fahr war. Da wa­ren mir nur zwei Per­so­nen ein­ge­fal­len, die ich an­ru­fen konn­te. Ols Weid­mann und Wolf­gang Rich­ter. Das sind bei­des Men­schen, die uns in die­ser schwe­ren Stun­de un­ter Ein­satz ih­res Le­bens ge­hol­fen ha­ben.

10 Jah­re da­nach ste­he ich heu­te vor Ih­nen. Ich hof­fe, dass ich mich nicht noch ein­mal an die­se Er­eig­nis­se er­in­nern muss. Denn ich den­ke, dass das Land, die Stadt, die Ver­wal­tung, die Po­li­zei schon sehr sehr viel aus Lich­ten­ha­gen 1992 ge­lernt ha­ben. Und das zeigt sich heu­te in der gan­zen Un­ter­stüt­zung der Ver­eins­ar­beit. Die Ver­an­stal­tung heu­te ist auch ein Zei­chen da­für, dass die Stadt, die Po­li­tik, die Kom­mu­nal­po­li­tik dar­aus et­was ge­lernt ha­ben. Und nicht nur dar­aus ge­lernt ha­ben, son­dern auch et­was da­für tun wol­len.

Ich möch­te die­se Ge­le­gen­heit nut­zen und von die­ser Stel­le aus an die Ros­to­cker ap­pel­lie­ren: "Wir kön­nen nicht al­les schaf­fen. Und ein klei­ner Ver­ein, wie wir es sind, kann sich nur auf ei­ne Auf­ga­be kon­zen­trie­ren, uns den Min­der­hei­ten hier in Ros­tock zu­zu­wen­den." Für die an­ti­ras­sis­ti­sche Ar­beit, den­ke ich, muss sich auch die deut­sche Be­völ­ke­rung ver­ant­wort­lich füh­len.

Und mir tut es weh, wenn ich je­des Mal den Jour­na­lis­ten er­zäh­len muss, dass ich als öf­fent­li­cher Mensch gro­ße An­er­ken­nung von Be­hör­den, von der Ver­wal­tung, von der Stadt er­fah­ren ha­be, aber nicht als ein­fa­cher Viet­na­me­se. Man nimmt sich das Recht, uns als Men­schen 2. und 3. Klas­se zu be­han­deln.

Ich wün­sche mir - und ich be­zeich­ne mich ja auch schon als Ros­to­cker - dass die Han­se­stadt Ros­tock ih­rem Ruf als ei­ne of­fe­ne Uni­ver­si­täts­stadt ge­recht wird. Aber die­se Stadt kann ih­re Au­ßen­wir­kung nur durch Ih­re Mit­ar­beit, durch Ih­re Mit­hil­fe ver­bes­sern. Und mei­ne Bit­te an Sie: "Er­in­nern, nicht um der Er­in­ne­rung we­gen, um zu kri­ti­sie­ren, nicht um zu mah­nen, son­dern er­in­nern, um nach vor­ne zu schau­en. Und ich glau­be, ge­mein­sam schaf­fen wir das. Wir, die Zu­ge­wan­der­ten brau­chen Sie, aber ich glau­be um­ge­kehrt, Sie brau­chen uns auch".

Dan­ke. x x

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