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Laudatio von Prof. Dr. Ralf Friedrich anlässlich der Verleihung des Sozialpreises der Hansestadt Rostock

Pressemitteilung vom 05.12.2002

5. Dezember 2002

Laudatio von Prof. Dr. Ralf Friedrich anlässlich der Verleihung des Sozialpreises der Hansestadt Rostock

- Es gilt das gesprochene Wort! -

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

“Kommunikation" ist eines der Schlagwörter unserer modernen Zeit. Es ist das Zauberwort für modernes Management, für Öffentlichkeitsarbeit, für politisches Handeln. Wir “kommunizieren" über Bilanzen und Unternehmensentscheidungen, Produktvorteile und besondere Dienstleistungen, Vereinsziele und politische Programme.

Und wir bedienen uns dabei modernster Kommunikationstechnologien, die nicht nur in unsere Arbeitswelt, sondern auch in unserem Alltag Einzug gehalten haben. Es gibt kaum noch einen Ort auf der Welt, von dem aus wir nicht mit dem anderen Ende der Welt “kommunizieren" können. Telefon und Fax, E-Mail und Handy stehen bereit, um jederzeit Informationen austauschen zu können. Wir sind nicht nur ständig verfügbar geworden, sondern auch zumindest technisch in der Lage, mit allen und jedem sofort und auf der Stelle zu sprechen, wenn es denn notwendig erscheint.

Wie gesagt: Wir kommunizieren - aber reden wir wirklich miteinander, hören wir einander zu?

In einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der Kommunikation eine so wichtige Rolle spielt, wird zwar viel geredet, jedoch wenig verstanden. Wenn es sich aber um existentielle Lebenskrisen handelt, sind wir zu einer “sprachlosen" Gesellschaft geworden. Meine Damen und Herren,

die Hansestadt Rostock zeichnet heute einen Verband und eine Einzelperson mit dem Sozialpreis der Stadt aus, die in ihrem jeweiligen Bereich des Engagements die “Sprachlosigkeit" überwinden helfen.

Sprachlosigkeit überwinden - im Fall von Manfred Rieck ist dies ganz wörtlich zu nehmen. 1989 erkrankte Manfred Rieck an Kehlkopfkrebs. Eine schwere Operation und eine Chemotherapie folgten. Im Zuge dieser Behandlung verlor Manfred Rieck seine natürliche Stimme.

Meine Damen und Herren,

was eine solche Krankheit und der Verlust der Stimme ganz individuell für den Einzelnen bedeutet, können wir uns wahrscheinlich nur schwer vorstellen. Wir können nur mutmaßen, wie schwer es sein muss, sich auf diese Situation einzustellen und mit dem Verlust der Stimme umzugehen.

Gerade in einer solchen Lage ist es wichtig, Kontakt mit Menschen aufzunehmen, die ein ähnliches Schicksal meistern müssen. Ärzte und Pflegepersonal sind selbstverständlich unverzichtbare Begleiter bei der Bewältigung einer solchen schweren Krankheit. Darüber hinaus gibt es aber so viele praktische Fragen und Probleme, die eben nur Betroffene verstehen und beantworten können.

Wie erleichternd und tröstlich muss es sein, noch am Krankenbett mit jemandem sprechen zu können, der es in einer ähnlichen Situation geschafft hat; der nicht nur sein Leben meistert, sondern auch Mut und Hoffnung ausstrahlt; der Dir sagt, Du bist nicht allein, wir helfen Dir.

Dieses Gefühl, nicht allein zu sein mit seiner Angst und Verzweiflung, sondern aufgenommen zu werden in einen Kreis von Schicksalsgefährten, kann in manchen Fällen sogar lebensrettend sein.

Weil Manfred Rieck aus eigener Erfahrung weiß, wie wichtig es ist, mit anderen Betroffenen über die Krankheit und ihre Folgen sprechen zu können, hat er am 19. Juni 1990 eine der ersten in Rostock beheimateten Selbsthilfegruppen, die Selbsthilfegruppe der Kehlkopflosen, ins Leben gerufen. Er ist bis heute der Vorsitzende und auch Leiter des Bezirksvereins der Kehlkopflosen.

Mit der Gründung einer Selbsthilfegruppe bewies Herr Rieck nicht nur für sich selbst, dass man mit Mut und Kraft sein Schicksal meistern kann. Nein, darüber hinaus spendet er seitdem mit großem Engagement vielen Leidensgefährten eben diesen Mut und gibt ihnen Hoffnung. In enger Zusammenarbeit mit dem Direktor der Klinik für Hals-Nasen-Ohren- Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie “Otto Körner" der Universität Rostock, Herrn Prof. Pau, betreut Manfred Rieck alle Kehlkopfkrebspatienten der Rostocker Klinik persönlich. Bereits im Vorfeld der Operation führt er mit wirklich jedem Betroffenen persönliche Gespräche über Chancen und Möglichkeiten einer Zukunft ohne Kehlkopf. Damit hat er sich die große Sympathie und hohe Anerkennung der Erkrankten und ihrer Angehörigen erworben. Durch die eigene Krankheit und die jahrelange intensive Beschäftigung in der Selbsthilfegruppe hat sich Herr Rieck fundiertes Wissen angeeignet. Er gibt sein Wissen und seine Erfahrung in Vorträgen über die Krankheit und ihre Folgen weiter und erteilt logopädischen Unterricht und berichtet jungen Medizinstudenten von seiner Krankheit.

Da die Krankheit nach der Operation und der Chemotherapie noch lange nicht überstanden ist, sondern beständiger Therapie und Versorgung bedarf, ist sie auch außerordentlich kräftezehrend. Daher ist es um so bewundernswerter, dass Manfred Rieck auch an schlechten Tagen mit viel Disziplin seine selbst gestellte Aufgabe wahrnimmt und dabei immer zuerst an die Probleme und Sorgen anderer denkt.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

viele Menschen können ihre Sprachlosigkeit nur dann überwinden, wenn sie in der Anonymität von ihren Sorgen und Nöten berichten. Entweder vertrauen sie sich ihrem engeren Umfeld aus Scham, Schuldgefühlen oder der Angst, aufgrund bestimmter Problematiken sozial ausgegrenzt zu werden, nicht persönlich an. All zu häufig gibt es aber auch keine Verwandten, Freunde oder Nachbarn, die sich der Sorgen und Nöte der Menschen annehmen würden. Wenn Probleme nicht mehr verarbeitet werden können, es keinen Ansprechpartner in der Familie oder im Freundeskreis gibt, ist es gut, wenn in Lebenskrisen überhaupt Hilfestellung von außen gegeben werden kann.

Der Sozialpreis der Hansestadt Rostock soll heute auch an eine Organisation gehen, die nicht nur “kommuniziert", sondern wirklich zuhört und hilft. 1991 wurde in der Hansestadt Rostock ein neuer sozialer kirchlicher Dienst ins Leben gerufen, der das Ziel hat, Menschen in Not- und Krisensituationen anonym und unabhängig von der Konfession, Hilfsangebote zu unterbreiten: die Telefonseelsorge.

Träger der Telefonseelsorge sind das Erzbischöfliche Amt Schwerin, die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Mecklenburgs, die Caritas Mecklenburg e.V. und das Diakonische Werk Mecklenburg e.V. Aber umgesetzt wird die Idee durch besonders engagierte Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt.

Dass diese Form der Sozialarbeit, die Telefonseelsorge notwendig ist und welchen Stellenwert sie in unserer Gesellschaft hat, sollen ein paar Zahlen und Fakten verdeutlichen:

- In den 10 Jahren seit Bestehen der Telefonseelsorge in Rostock wurden etwa 101 700 Anrufe gezählt. - Täglich gehen etwa 70 Anrufe ein. - Seit Juli 2000 berät die Telefonseelsorge auch per E-Mail. Seitdem wurden mehrere hundert E-Mails beantwortet. - 144 Frauen und Männer wurden für den Dienst am Telefon ausgebildet. - Jede und jeder setzen sich im Durchschnitt 200 Stunden im Jahr für die Telefonseelsorge ein.

Die ehrenamtlich Tätigen unterstützen die Hilfesuchenden indem sie zuhören, Mut machen, Wege aufzeigen oder an andere Hilfestellen oder entsprechende Berater weitervermitteln. Die Gesprächspalette reicht von Partnerschaft, Familie, Schwangerschaft, Sexualität, Einsamkeit, Krankheit bis hin zu Suizid und Tod. Von den Ehrenamtlichen werden ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen, Offenheit und Toleranz sowie das Interesse am eigenen Lebens- und Lernvorgang abverlangt, um diesen ganz wichtigen Dienst tun zu können. Die Telefonseelsorger sind stetig wechselnder psychischer Beanspruchung ausgesetzt und tragen ein hohes Maß an Verantwortung. Sie müssen mit den Anforderungen und der Not anderer fertig werden, aber auch nötige Distanz wahren.

Da die Ratsuchenden aus allen Alters- und gesellschaftlichen Schichten kommen, wird auch ein breites Spektrum an Kenntnissen verlangt, um mit den sehr vielschichtigen Problemen und Umständen umgehen und Lösungswege aufzeigen zu können. Die meisten Anrufer sind zwischen elf und 19 Jahren, gefolgt von den bis zu 50jährigen. Die Zahl der Hilfesuchenden wächst mit jedem Jahr. Das zeigt zum einen, dass die Sorgen und Nöte vieler Menschen dramatisch zunehmen, kann aber auch ein erschreckendes Signal für die zunehmende Sprachlosigkeit und die abnehmende Gesprächskultur in unserer modernen, individualisierten Gesellschaft sein.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

in diesem Zusammenhang ist es ein sehr ermutigendes Zeichen, dass sich jedes Jahr neue Menschen finden, die bereit sind, sich für die Telefonseelsorge zu engagieren. In Rostock sind zur Zeit etwa 80 Frauen und Männer ehrenamtlich bei der Telefonseelsorge tätig. Jeden Tag, jede Nacht, rund um die Uhr sind sie neben ihrer Berufstätigkeit, neben ihrer Familie und dem üblichen Alltagsstress für andere da.

Drei Mal im Monat sitzen die ehrenamtlich tätigen Frauen und Männer drei bis vier Stunden am Telefon. Die Anforderungen, die an jeden Einzelnen gestellt werden sind sehr hoch. Jeder absolviert eine einjährige Ausbildung. Fortbildungen und Gruppengespräche, um Probleme zu verarbeiten und sich über verschiedenste Themen auszutauschen, gehören zum Alltag eines Telefonseelsorgers.

Monatlich kommen fast immer 20 Stunden ehrenamtlicher Arbeit für alle Beteiligten zusammen. Dieses Pensum ist nur mit außerordentlichem Engagement zu bewältigen. Viel Verständnis, Nächstenliebe und Disziplin gehören dazu, über mehrere Jahre dabeizubleiben. Aber, und das ist neu, es arbeiten auch zwölf Männer und Frauen in der E-Mail-Beratung. Schon Hunderte E-Mails erreichten die Telefonseelsorge als “Hilfeschreie" aus dem PC. Es ist wohl so in unserer Zeit - dass dieses neue Medium ganz einfach angenommen werden muss - auch vielleicht in dem therapeutischen Sinne, sich den Kummer von der Seele zu schreiben und sich damit der Situation bewusster zu werden. Dass der Rotary-Club Rostock der Telefonseelsorge dafür einen Laptop spendete, dafür meinen ganz persönlichen Dank an dieser Stelle.

Meine Damen und Herren,

in der Broschüre, die zum zehnjährigen Jubiläum der Telefonseelsorge herausgekommen ist, hat mich eine Passage besonders beeindruckt und nachdenklich gemacht. Hier wird ein Anrufer mit den Worten zitiert:

“Guten Tag, ich wollte Sie mal fragen, ob Sie eigentlich auch Sorgen haben"

Sie, liebe Telefonseelsorger und ihre Angehörigen bringen ein hohes Maß an Verantwortung und Verständnis für die in Not geratenen Anrufer auf. Ob an Feiertagen, bei Familienfesten oder an den vielen Wochenenden verzichten Ehepartner und Kinder auf Sie, weil Sie am Telefon für andere da sein wollen. Können Sie sich Ihre Sorgen von der Seele reden? Hilft Ihnen die gemeinschaftliche Arbeit zum Wohle anderer auch bei der Bewältigung eigener Probleme? Ich kann es nur hoffen und Ihnen von ganzem Herzen wünschen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Unser Dank gilt den Frauen und Männern der Telefonseelsorge und Herrn Manfred Rieck für Ihr außerordentliches soziales Engagement, ihre psychische und physische Kraft, ihre Herzensgüte und ihren Mut. Sie alle sind “Halt, Stütze, Geländer, Brücke oder aber auch einfach Klagemauer" - wie es einmal die Leiterin der Telefonseelsorge, Frau Reinmuth, so treffend bemerkte. Wir alle wünschen Ihnen allen weiterhin viel Kraft und Energie für Ihre Aufgabe. Im Sinne der Betroffenen wünschen wir Ihnen immer ein offenes Ohr für Kranke und Hilfe suchende Menschen.

Die Hansestadt Rostock bedankt sich bei Ihnen sehr herzlich und würdigt Ihr herausragendes Engagement mit der Verleihung des Sozialpreises 2002.

Ich bitte nun Herrn Manfred Rieck und stellvertretend für alle Telefonseelsorger ihre Leiterin Frau Christine Reinmuth nach vorne, um den Sozialpreis der Hansestadt Rostock für das Jahr 2002 entgegenzunehmen.

Vielen Dank und herzlichen Glückwunsch! x x

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