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Rede von Bürgerschaftspräsident Prof. Dr. Ralf Friedrich zum Volkstrauertag am 17. November 2002

Pressemitteilung vom 18.11.2002

18. November 2002

Rede von Bürgerschaftspräsident Prof. Dr. Ralf Friedrich zum Volkstrauertag am 17. November 2002

Sehr geehrte Damen und Herren,

wiederum gedenken wir an diesem vorletzten Sonntag vor dem ersten Advent der Opfer zweier Weltkriege und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Auch in diesem Jahr vereint die Trauer über das Geschehene Millionen von Menschen in unserem Land. Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, danke ich besonders für Ihr Kommen zur heutigen Gedenkfeier.

Seit den Zeiten des griechischen Dichters Homer heißen die Menschen “die Sterblichen". Die Kriege im Europa des letzten Jahrhunderts, die Anschläge vom 11. September in den USA, die täglichen Nachrichten von Krieg, Gewalt und Unglücksfällen erinnern uns daran, dass wir dieses Schicksal mit unseren Vorfahren teilen:

Wir sind die Sterblichen, die an jedem Ort und zu jeder Zeit mitten im Leben vom Tod begleitet sind: “memento mori". Deshalb gedenkt unser Land heute der Opfer von Krieg und Gewalt, deshalb teilen wir die Trauer der Angehörigen.

Aber der Blick zurück ist nicht nur düster. Neben der Trauer mit ihren vielfältigen und schmerzvollen Erinnerungen stehen auch Hoffnung und Zuversicht. Mit Stolz und Dankbarkeit erinnern wir uns an die friedliche Revolution der ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger im Jahre 1989. Sie haben die deutsche Einheit - und übrigens auch gemeinsame Volkstrauertage - erst möglich gemacht. Wir erlebten, wie das Ende des Ost-West-Gegensatzes im von zwei Weltkriegen zerrissenen Europa aus Gegnern Verbündete und Freunde werden ließ. Wir arbeiten am weiteren Zusammenwachsen Europas. Die Friedenserhaltung auf unserem Globus, den wir immer mehr als die ‘eine Welt‘ verstehen lernen, wird zunehmend zu einer gemeinsamen Aufgabe der Staatengemeinschaft und ihrer Institutionen. Gerade unter diesem Gesichtspunkt wird die Bundesrepublik Deutschland im internationalen Maßstab heute mehr als je zuvor gefordert.

Ist bei solch hoffnungsvollen Perspektiven noch Platz für die Trauer? Die Forderung nach sogenannten Schlussstrichen ist laut. Schlussstriche unter die Schrecken zweier Weltkriege; Schluss mit dem Blick zurück; Schluss mit der Trauer und der Besinnung? Brauchen wir künftig noch ein gesellschaftliches Gedenken an Ereignisse, die zunehmend weniger Menschen aus dem persönlichen Erleben kennen?

Einen solchen Schlussstrich kann man nicht ziehen. Ein Ausstieg aus der Geschichte, das Verdrängen des Grauens, dass das zurückliegende Jahrhundert deutscher und europäischer Geschichte geprägt hat, ist unmöglich, vielleicht sogar der erste Schritt zu neuem Hass. Wir brauchen den Blick zurück, um unsere Verantwortung für das Geschehene zu erkennen und Konsequenzen daraus für unser Handeln abzuleiten. Wenn persönliche Erfahrung und Betroffenheit mit den Generationen entschwinden, brauchen wir Gedenkorte - wie hier auf diesem Friedhof - und Gedenktage wie den Volkstrauertag.

Dieser Gedenktag weist eine lange und durchaus wechselvolle Tradition auf. Nachden Schrecken des Ersten Weltkrieges mit mehr als 10 Millionen Toten in Europa und anderen Teilen der Welt wurde der Volkstrauertag von dem 1919 gegründeten “Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge" im Jahr 1920 eingeführt. 1922 fand die Gedenkfeier erstmals im staatlichen Rahmen statt. Im Deutschen Reichstag erinnerte der damalige Reichstagspräsident Paul Löbe eindringlich an das ganze Ausmaß des Leides, das der Krieg über weite Teile der Welt gebracht hatte. Zugleich rief er zu Umdenken und Umkehr auf. Ich darf daraus zitieren:

“Leiden zu lindern, Wunden zu heilen, aber auch Tote zu ehren, Verlorene zu beklagen, bedeutet Abkehr vom Hass, bedeutet Einkehr zu Liebe, und unsere Welt hat die Liebe not"

Dieser Appell des langjährigen Reichstagspräsidenten stand in radikalem Kontrast zu dem, wozu der Volkstrauertag nach 1933 von den neuen Machthabern pervertiert wurde. Zum Staatsfeiertag erklärt und zum “Heldengedenktag" umbenannt, dienten die nun von Wehrmacht, NSDAP und Reichspropagandaministerium organisierten Massenveranstaltungen der Glorifizierung des ‘Heldentodes‘ für Volk, Vaterland und vor allem den sog. ‘Führer‘. Aus Trauer- und Friedensgedanke wurden Kriegsverherrlichung und Förderung von Völkerhass. Die grausamen Folgen - der von Hitler entfesselte Zweite Weltkrieg, die unvorstellbaren Zerstörungen in weiten Teilen der Welt, die über 55 Millionen Toten - werden gerade den Älteren unter uns, zu denen auch ich mich zähle, am Volkstrauertag immer wieder schmerzlich bewusst. Aber Fakten und Zahlen bleiben auch in diesen Schreckensdimensionen abstrakt - es sind die Erinnerungen an die einzelnen Opfer des nationalsozialistischen Kriegs- und Rassenwahns, die uns an diesem Tag besonders weh tun - der Verlust von Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Sohn, Tochter, von Freunden und Nachbarn, von Familie, zu Hause, von Heimat.

Nach 1945 wurde die 1933 unterbrochene Tradition des Volkstrauertages vom “Volksbund" 1949 wieder aufgegriffen. 1952 wurde der Volkstrauertag zum nationalen Trauertag erklärt. In einer Ansprache im Plenarsaal des Deutschen Bundestages in Bonn betonte der erste Bundespräsident unserer Republik, Theodor Heuss, den umfassenden Charakter dieses Tages. Er rief dazu auf, das Gedenken nicht nur auf die gefallenen Soldaten zu beschränken. Vielmehr erinnerte er ausdrücklich an alle “Opfer einer bösen Politik". Ich darf aus seinen damaligen Worten zitieren:

“(...) der Opfer sind tausendfach mehr, bei uns, bei den anderen. - Die (...) Mahnsteine wachsen - dies gilt den Opfern der Bombenangriffe, dies wächst am Rande eines Konzentrationslagers, dies steht auf dem (...) jüdischen Friedhof. (...) da ist es vorbei mit dem Heroisieren, da ist einfach grenzenloses Leid. Hier die Folgen der wüsten technischen Gewalt, dort die Folgen der wüsten sittlichen Zerrüttung."

Wir erinnern uns heute betroffen an die 55 Millionen Menschen, die im Zweiten Weltkrieg ihr Leben gelassen haben: Männer, Frauen und Kinder, Soldaten und Zivilisten, Militaristen und Pazifisten, Schuldige und Unschuldige, Freunde und Feinde. Wir erinnern uns an die deutschen Soldaten, die von einer verbrecherischen, im ideologischen Größenwahn verblendeten Führung sinnlos geopfert wurden.

Wir denken an die Hunderttausende, die aus der Kriegsgefangenschaft nicht mehr in ihre Heimat zurückkamen. Wir erinnern uns an die Menschen, die in den Bombennächten in Dresden und Hamburg, in Berlin und Kassel, in Coventry, in Rotterdam und in vielen anderen Städten in ganz Europa, darunter auch hier in Rostock, umgekommen sind. Wir denken an die durch Flucht und Vertreibung Gestorbenen.

Wir erinnern uns an die Menschen, die aus rassischen, politischen und religiösen Gründen in den Konzentrationslagern und in Gestapogefängnissen ermordet wurden; die Zwangsarbeit im Raketentunnel in Mittelbau-Dora leisten mussten, die in Buchenwald ermordet wurden - aber auch an die, die nach Kriegsende in den Lagern der sowjetischen Besatzungszone starben. Wir denken an die Toten, die an der DDR-Grenze, an Mauer und Stacheldraht, zu Tode kamen, weil sie in Freiheit leben wollten.

Jedes einzelne Opfer, das wir in unser Gedenken einschließen, ist eine Mahnung gegen das Vergessen. Wer zu vergessen beginnt, für den ist aus der Geschichte nichts zu lernen. Er wird erneut in den Teufelskreis von Unrecht, Krieg und Gewalt hineingezogen. Tschetschenien, die Verwüstungen auf dem Balkan, die Anschläge vom 11. September und die Barbarei des Taliban-Regimes sind dafür erschütternde Beispiele. Das Erinnern und Verarbeiten von solchen destruktiven Menschheitserfahrungen sind wichtiger Teil einer wertorientierten Erziehung unserer Kinder und Jugendlichen. Ein besonderer Dank gilt den Schulen, Kirchen und Vereinen, die hierzu eine wertvolle Arbeit leisten.

Nur diese umfassende Form der Auseinandersetzung kann uns zum verantwortlichen Handeln in Gegenwart und Zukunft anleiten. Wirkliche Trauer ist nicht rein passiv, ist nicht resignativ. Wir müssen sie vielmehr auch begreifen als Anregung zum eigenen Handeln, als motivierende Kraft. Erst aus tiefem Trauern erwachsen moralische Gegenwartsverpflichtung und Zukunftsfähigkeit. Die Trauer erfüllt erst dann ihren umfassenden Sinn, wenn wir sie als Aufforderung zum Handeln verstehen - Handeln gerade im Sinne derer, um die wir heute trauern.

Opfer des Krieges wurden Kriegsbegeisterte ebenso wie Kriegsgegner, Gegner auch und vor allem der Gewalttaten des menschenverachtenden nationalsozialistischen Rassenwahns. Den Gegnern und den Ohnmächtigen standen und stehen hasserfüllte Mörder und Schreibtischtäter, Verblendete und Verführte aber auch jene gegenüber, die aus Gleichgültigkeit oder Angst die Augen verschlossen vor dem, was auf den Schlachtfeldern und in den Konzentrationslagern in der Nachbarschaft geschah.

Jeder getötete Soldat, jeder verhungerte und erfrorene Flüchtling, in unvergleichlicher Weise aber jeder Mann, jede Frau, jedes Kind, die wegen ihrer Herkunft, ihrer Rasse, ihres Geschlechts, ihrer Religion und aus keinem anderen Grund ermordet wurden, verlangen von uns, Gewaltherrschaft abzuwehren, Zivilcourage und Toleranz zu üben und den Krieg als Mittel der Politik zu ächten. Umfassende Friedensarbeit - das ist der ethische Auftrag der Ermordeten und Getöteten. Diesen Auftrag zu erneuern ist Sinn des Volkstrauertages. Der Krieg im Kosovo, die Anlässe für Scham und für Stolz, die sich an jedem deutschen November jähren, beweisen, wie klein die Schritte sind von Frieden zu Krieg, von ziviler Gesellschaft zu Gewaltherrschaft und Barbarei.

Genau so wichtig ist die Vermittlung konstruktiver Erfahrungen, die freiheitlich, demokratische Gesellschaften mit der friedlichen Lösung von Konflikten gesammelt haben. Wertorientierte Erziehung muss Demokratie für jede neue heranwachsende Generation verstehbar und erfahrbar machen, wenn Demokratie von innen stabil bleiben will. Demokratie muss aber auch wehrhaft sein, wenn sie angegriffen wird.

Wenn die Grundlagen einer freiheitlich-demokratischen Ordnung durch äußere Gewalt bedroht sind, wenn der konfliktlösende Dialog verweigert wird, dann müssen Demokraten bereit sein, die Voraussetzungen für Gerechtigkeit und Frieden gegebenenfalls auch mit militärischen Mitteln zu verteidigen.

So stellt uns der Weg zur Weltherrschaft, den heute die Terroristen wählen, vor völlig neuartige Herausforderungen. Zur Durchsetzung ihrer zerstörerischen Ziele bedienen sie sich der vielfältigen, modernen Möglichkeiten einer globalisierten Welt, nicht zuletzt der Offenheit von freiheitlichen Demokratien. Die Terroristen hätten ihr Ziel erreicht, wenn wir uns in einen Krieg der Kulturen treiben ließen. Parallel zu notwendigen militärischen Aktionen müssen deshalb humanitäre Hilfe für die unschuldigen Opfer und politische Hilfe zur Selbsthilfe organisiert werden.

Das schreckliche Morden und die grausamen ethnischen Vertreibungen im ehemaligen Jugoslawien, beispielsweise im Kosovo, sowie nicht zuletzt die verbrecherischen terroristischen Anschläge vom 11. September 2002 in den USA oder das Handeln angeblicher tschetschenischer Untergrundkämpfer gegen unschuldige Theaterbesucher vor wenigen Wochen in Moskau als Reaktion auf die Vorgänge in Tschetschenien haben erneut gezeigt, dass der Hass lebendig ist. Solange immer noch Menschen glauben, politische, wirtschaftliche, ethnische oder religiöse Konflikte mit Waffengewalt lösen zu können, solange muss die Arbeit für den Frieden weitergehen.

Sie beginnt mit jenem aktiven Gedenken, das der “Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge" seit nunmehr acht Jahrzehnten praktiziert und fördert. Über Grenzen hinweg leisten sie in Seminaren, Schulprojekten, Begegnungen, Gesprächen und der gemeinsamen Gräberpflege europäische und internationale Jugendarbeit. Über die Vergegenwärtigung des Grauens zweier Weltkriege wird der Friedensgedanke lebendig weitervermittelt und zugleich die kulturelle Verständigung zwischen den Völkern gefördert. Diese Friedensarbeit wird gebraucht. Mit ihr kann aus dem unermesslichem Leid dieses Jahrhunderts dauerhafter Frieden zwischen den Völkern unserer ‘einen Welt‘ erwachsen.

Das ist die Hoffnung und der Auftrag des Volkstrauertages! x x

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