Home
Navigation

Verdrängt, vergessen, verharmlost: Alkohol zwischen Genuß und Gefährdung

Pressemitteilung vom 09.09.1999

9. September 1999

Verdrängt, vergessen, verharmlost: Alkohol zwischen Genuß und Gefährdung
Rostocker Suchtwoche vom 20. bis 25. September wirbt für verantwortungsbewußten Umgang mit Alkohol

Während bundesweit über die die Vergabe von Heroin an Schwerstabhängige nachgedacht wird, scheint sich kaum jemand für den alltäglichen massenhaften Konsum von Alkohol zu interessieren. Neben einer hohen Zahl gesundheitlicher Schäden durch das Rauchen ist und bleibt Alkoholmißbrauch und -abhängigkeit jedoch das Suchtproblem Nummer 1.

Risikohafter Alkoholkonsum hat nichts von seiner bedrückenden Aktualität eingebüßt. Zu Buche stehen: 40.000 vorzeitige Todesfälle jährlich in Deutschland, immense psycho-soziale Schäden und Leid insbesondere für Angehörige und Kinder, wirtschaftliche Schäden in zweistelliger Milliardenhöhe - die WHO schätzt die Kosten auf fünf bis sechs Prozent des Bruttosozialproduktes, die das Gesundheitswesen, aber auch das Sozial-, Rechts- und Verkehrswesen belasten. Schäden durch Alkohol hängen keineswegs nur mit einer Abhängigkeit oder Alkoholkrankheit zusammen. Im Gegenteil: Zwei Drittel aller Schäden werden durch Mißbrauch oder risikohaften Konsum hervorgerufen.

Die 8. Rostocker Suchtwoche widmet sich daher dem Trinkverhalten von Alkohol, will das Problem bewußt machen und für den verantwortungsbewußtem und selbstkontrollierten Umgang mit Alkohol werben. Es geht nicht darum, den Alkoholgenuß zu diskriminieren oder zu negieen, sondern schädlichen Konsum deutlich zu reduzieren und das Verantwortungsgefühl gegenüber Dritten zu stärken.

Gibt es Handlungsbedarf?

Der Pro-Kopf-Verbrauch an reinem Alkohol ist bundesweit mit rund elf Litern leicht rückläufig. Trotzdem nimmt Deutschland weiterhin einen der vorderen Rangplätze in der Welt ein. Der Alkoholkonsum in der deutschen Bevölkerung ist sehr ungleich verteilt. Während einerseits mehr Menschen gesundheitsbewußt leben (Alkoholabstinenzraten erreichen zehn Prozent), geht der Konsum bei der Gruppe der problematischen Trinker kaum zurück. Neueste repräsentative Untersuchungen weisen in der Altersgruppe der 18- bis 59jährigen Erwachsenen sieben Prozent mit einem risikohaften Konsum aus, fünf Prozent als gefährdet, alkoholkrank zu werden und drei Prozent als Alkoholabhängige aus. Für Rostock ergäbe sich anhand dieser Zahlen eine Risikogruppe von etwa 20.000 in dieser Altersgruppe. Das ist keine kleine Minderheit. Eine Trendwende zum Besseren zeichnet sich auch bei Jugendlichen nicht ab, rund sieben Prozent der 14- bis 15jährigen Jugendlichen trinken übermäßig. Dabei soll der Alkoholkonsum in Mecklenburg-Vorpommern etwa 20 Prozent über dem Bundesdurchschnitt liegen.

Wann beginnt das Risiko, wieviel Alkohol ist schädlich?

Allgemeine und für jeden gültige Regeln gibt es nicht. Hier spielen Alter, Gesundheitzustand, Geschlecht, die aktuelle Lebenssituation und andere Parameter eine wichtige Rolle. So sollte beispielsweise von Jugendlichen unter 16 Jahren, in der Schwangerschaft oder bei bestimmten Erkrankungen gar kein Alkohol getrunken werden. Die WHO hat Grenzen für den risikoarmen Alkoholkonsum gezogen. Für Männer sind dies 30 bis 40 Gramm Reinalkohol am Tag, für Frauen 20. Diese Mengen sind schnell erreicht. So enthält ein Liter Bier ca. 40 Gramm Alkohol, eine Flasche Sekt allein 84 Gramm, ein Schnaps 16. Viele Fachleute halten auch das regelmäßige und tägliche Trinken kleiner Mengen für problematisch. Wer darauf auch für eine begrenzte Zeit nicht verzichten kann oder will, muß sich fragen, warum der Alkohol für ihn so wichtig ist.

Ist die Situation veränderbar?

In Betracht kommen vielfältige Möglichkeiten. So haben Untersuchungen ergeben, daß sich der Konsum durch höhere Preise reduzieren läßt. Dies ist aber nur wirksam, wenn eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung dafür vorhanden ist. Unumstritten ist eine Verbesserung von Aus-, Fort- und Weiterbildung in der Medizin und anderen helfenden Berufen, um einerseits Früherkennung und andererseits angemessene suchtspezifische Interventionen zu ermöglichen. Nur etwa fünf Prozent der Alkoholkranken werden durch suchtspezifische Hilfen erreicht. Dringend nötig und hilfreich sind gezielte Präventionsprojekte und mehr finanzielle Mittel. Forderungen an die Politik werden laut, Werbe- und Verkaufsbeschränkungen gegen mächtige wirtschaftliche Interessengruppen durchzusetzen. Oft ist Alkohol in Deutschland leichter zu erhalten als Brot, Milch und andere Lebensmittel. Gibt es einen zwingenden Grund, Alkohol an Tankstellen und Raststätten anzubieten? Doch können Verbote und Beschränkungen tatsächlich etwas ändern oder beruhigen sie nur das Gewissen? Jeder sollte sich auch selbst fragen: Unterstütze ich nicht oft durch Verschweigen, Bagatellisieren oder Verleugnen, die ohnehin bekannten Abwehrmechanismen risikohaften Trinkens und mache mich mitverantwortlich? In jeder Veranstaltung rund um den Alkohol werden wir gefragt: "Ich kenne da jemanden. Ich glaube der trinkt ein bißchen viel. Soll ich ihn ansprechen?" Natürlich, es ist doch die einzige Chance, hilfreich zu sein. Wenn schon ein Außenstehender das Problem bemerkt, ist es höchste Zeit. In aller Regel wird er oder sie es Ihnen am Anfang nicht danken. Und doch hilft es manchmal. Wie man so ein schwieriges Gespräch am besten führt, darüber kann man sich in jeder Suchtberatungsstelle Rat holen. Viele Fragen zum Alkoholkonsum und seinen Folgen bleiben, einfache Lösungen sind nicht in Sicht. Es gibt kein Patentrezept zur Bekämpfung von Sucht und auch nicht zur Veränderung tradierten Trinkverhaltens. Nur viele kleine, oft mühsame Schritte und Teilerfolge sind möglich. Zur Diskussion im Rahmen der 8. Rostocker Woche gegen Suchtgefahren sind jedenfalls alle herzlich eingeladen, Laien, Betroffene, Besorgte, Helfer, Politiker und Professionelle. Dr. paed. Christa Dorow
Suchtkoordinatorin Gesundheitsamt