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Verleihung des Sozialpreises der Hansestadt Rostock 2003

Pressemitteilung vom 08.12.2003

Sehr geehrte Frau Ilse Gotthardt, werter Herr Oberbürgermeister Arno Pöker, werter Herr Präsident der Rostocker Bürgerschaft, Herr Prof. Ralf Friedrich, werte Ehrengäste, werte Gäste,

traditionsgemäß am Tag des Ehrenamtes, am 5. Dezember eines jeden Jahres, verleiht die Hansestadt Rostock den Sozialpreis. Damit würdigt unsere Stadt die Leistungen von Menschen, von Einzelpersonen, aber auch von Verbänden und Vereinen, die ein hohes Maß an ehrenamtlichem Engagement, an selbstloser Hilfe in unserer Stadt für andere aufbringen.

Wissenschaftlerinnen und Politikerinnen warnen vor der sozialen Kälte, die morgen regieren wird, wenn wir es heute nicht verstehen, uns zu ändern. Und sie wollen uns damit sagen, wo unser Gewissen doch allzu sehr an der Industriegesellschaft hängt - Kommunikation überdauert alle Werte des "Homo faber".

Ein bekannter Philosoph und Schöngeist sagte einmal:

"Die Bedeutung der Stabilität der Menschheitsgeschichte bleibt den westlichen Kulturen wahrscheinlich so lange verborgen, bis man wieder entdeckt, dass das Leben aus dem Erleben der Beziehungen besteht und nicht im Streben nach Zielen oder Zahlen."

Eine breit angelegte Studie zur ehrenamtlichen Tätigkeit in Europa, auch als "Eurovol-Studie" 1996 veröffentlicht, zeigt das Ergebnis, dass in der Bundesrepublik Deutschland nur 18 % der Bürgerinnen und Bürger (davon 24 % in Ost und 16 % in West) ehrenamtlich mindestens einmal im Monat aktiv tätig sind. Das ist deutlich weniger als der internationale Durchschnitt von 27 %. Beim "Volunteering", so geht aus der Studie hervor, kommt der Bundesrepublik Deutschland nur der drittletzte Rang unter den zehn untersuchten Ländern zu. Spitzenreiter sind die Niederlande, Schweden und Belgien. Und was besonders hervorzuheben ist, 80 % derjenigen, die die unmittelbar mit Sorge und Pflege und Kommunikation verbundene ehrenamtliche Arbeit ausführen, sind Frauen, und die werden für die Zukunft nicht ausreichen, um die Wunden und Leiden und die Löcher im sozialen Netz zu stopfen.

Das Problem des eher geringen Interesses der Deutschen an ehrenamtlicher Arbeit wird offensichtlich auch in der Politik gesehen. So wiesen Bundespräsident Johannes Rau und Familienministerin Bergmann in ihren Reden am 5. Dezember 2000, dem jährlichen Tag des Ehrenamtes, in Bonn darauf hin, dass Erleichterung und organisatorische Verbesserung (bis hin zur Anrechnung auf Rentenanwartschaft) angemessen seien, um das ehrenamtliche Engagement in Deutschland zu ermutigen.

Was sind nun die Beweggründe für Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren?

Was sollen mir Gedanken, wenn sie nicht der Keim von Taten sind? Wo die Idee sich in Tat umsetzt, da erst geht sie mich an. Eine Idee bleibt ewig eine Phrase, solange ich sie nicht lebe."

Lion Feuchtwanger Nun, zu diesem tiefen Schluss kommt man natürlich erst am Ende eines intensiven Lebens.

Ich habe einmal Menschen gefragt, die mitten in der "ehrenamtlichen Arbeit" stecken und sie haben mir zu ihrer Motivation Folgendes gesagt:

- Ich treffe Menschen und gewinne Freunde.
- Es hilft mir, aktiv und gesund zu bleiben.
- Es entspricht meinen moralischen Prinzipien.
- Es gibt mir Gelegenheit, neue Fähigkeiten zu erlernen.


Das waren nur einige der klaren Aussagen.

Sehr geehrte Frau Ilse Gotthardt,

ich hatte nicht die Gelegenheit, Sie nach ihrer Motivation zu fragen, aber wenn man Ihren Lebenslauf liest, dann ahnt man die Motive Ihres Handelns:

- Es gibt eine siegreiche Waffe, und das ist die Güte. -

In einem Brief haben Sie mir mitgeteilt, dass Sie der Passion Ihres großen menschlichen Vorbildes Albert Schweitzer folgen:

- Tut die Augen auf und suchet, wo ein Mensch ein bisschen Zeit, einbisschen Fürsorge braucht -

Sie sind in einer kinderreichen Bauernfamilie in Pommern groß geworden, und da waren Hilfsbereitschaft und das Füreinanderstehen eine Selbstverständlichkeit, wenn nicht sogar überlebensnotwendig.

Ihr Vater war ein zupackender, tatenkräftiger Mensch, so erinnern Sie sich, der es liebte, "Nägel mit Köpfen" zu machen. In Ihrer Schulzeit hatten Sie dann noch das Glück, durch Lehrer unterrichtet zu werden, die sich durch einen außergewöhnlichen Berufsethos auszeichneten. Es waren also die berühmten Kindheitsmuster, die Sie geprägt haben und derer man sich erst im reiferen Alter wieder bewusst wird.

- "Blühe, wo du gesät bist" -

ein Quellgrund für Ihre Lebensleistung, die wir heute würdigen. An Ihre erste Zeit als Junglehrerin erinnern Sie sich besonders gern. Sie waren an der EOS in Bad Doberan tätig, und Sie haben so ganz nebenbei Ihr tiefes Gefühl für Kunst und Literatur entdeckt - zwei Elemente, die zu einer tragenden Säule in Ihrem Leben werden.

Dieser tiefe Glaube an die Kraft dieses unendlichen Geistes war es auch, der mir besonders auffiel, als wir uns nach der politischen Wende ganz zufällig in der PDS in Rostock fanden. Ich hatte damals das Gefühl, Sie glaubten mit den Ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln wieder an eine Zukunft, und Sie versuchten, andere auf diese Reise mitzunehmen.

Als Lehrerin in Bad Doberan haben Sie sich besonders jenen jungen Schützlingen zugewandt, die leistungsschwach waren und aus sozial nicht so gut gestellten Eltern- häusern kamen. Vielen jungen Menschen haben Sie somit in kleinen Schritten Erfolgserlebnisse verschafft und Ihnen Selbstbewusstsein und Zuversicht vermitteln können.

Besonders froh und glücklich sind Sie dann, wenn sie nach 20 oder aber auch nach 30 Jahren vor einem fremden Menschen stehen, der Ihnen scheinbar unbekannt ist. Die überraschende Frage "Kennen Sie mich noch, Frau Gotthardt? Schauen Sie mal, aus mir ist doch noch etwas Gescheites geworden", die öffnet Ihnen die Augen. Ich glaube zu spüren, was dann in Ihnen vorgeht, es erwacht auch in unserem Alter dann noch das immer glimmernde Feuer, wenn man es dann hat.

Ich weiß auch, Sie machen bewusst um Ihre Arbeit kein Aufsehen. Es widerspricht Ihrer Einstellung, Ihre Arbeit in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Aber, liebe Frau Gotthardt, dieser Tag heute gehört u.a. auch Ihnen und den vielen anderen, die genau wie Sie nicht in den Vordergrund gestellt werden möchten.

Aber, weil es so ist und weil die Medien lieber laut denn leise und sensibel berichten, sollten die Medien, wenn sie denn anwesend sind, Ihre weitere Lebensgeschichte, Ihr ungemein feinfühliges Umgehen mit älteren Menschen erfahren.

Sie hatten, nachdem Sie in den Vorruhestand mit 56 Jahren treten mussten, das ungemeine Glück, Frau Prof. Huchthausen zu begegnen. Uns allen hier ist diese engagierte Frau bekannt, und sie hatte damals gerade das Lebenshilfswerk "Kummersprechstunde" gegründet. Ihre Mitarbeit in diesem gemeinnützigen Verein war nur folgerichtig, und damit beginnt vielleicht die anspruchsvollste Tätigkeit im Rahmen Ihres ehrenamtlichen Wirkens.

Ihre Zuneigung und Fürsorge gilt ab dieser Zeit all jenen älteren Menschen unter uns, für die die Welt sehr klein geworden ist, die Wirklichkeit weit entrückt ist und sie eigentlich nur noch von ihren Erinnerungen leben. Sie haben für sich dabei die wunderbare Erkenntnis gewinnen können, dass trotz aller geistigen und körperlichen Einschränkungen auch diese älteren Menschen zu gewissen Leistungen fähig sind.

Jeder einzelne Lebensweg war für Sie dabei von Bedeutung, und manchmal, so schrieben Sie mir, konnten Sie mit über 90-jährigen Heimbewohnerinnen über eine Stunde lang alle Volkslieder auch ohne Liederbuch singen. Über zehn Jahre hinweg haben Sie so Heimbewohner in Evershagen regelmäßig besucht und betreut.

Ein jeder von uns weiß nun, welche Leistungen über Pflegesätze abzurechnen sind, und wir können nachvollziehen, dass das, was Sie an geistiger Pflege geleistet haben, eigentlich unbezahlbar ist.

Und gerade diese Art von geistiger Pflege ist wichtig bei Menschen, die an der Alzheimer Krankheit leiden, um ihnen im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine gewisse Persönlichkeitsentfaltung zu ermöglichen.

Und noch heute besuchen Sie über das Stadtgebiet verteilt betagte Rentnerinnen, auch ehemalige Kolleginnen sind darunter.

Über Kunst und Literatur finden Sie Kontakt zu den Menschen, und Sie führen damit diese Menschen aus Ihrer Einsamkeit heraus. Eine, wie ich finde, bewundernswerte menschliche Leistung.

Mittlerweile wird diese, Ihre besondere Fähigkeit, auch von den Trägern der Wohlfahrt unserer Stadt hoch geschätzt. Eine Reihe von "Literaturnachmittagen" haben Sie zusammen mit der AWO, Diakonie, Volkssolidarität, bei "Dau wat", Charisma und auch im Mittwochtreff des Lebenshilfswerkes gestaltet.

Eine Auswahl Ihrer bevorzugten Literaten sei mir gestattet: Erich Kästner, Hans Fallada, Erwin Strittmatter und Helmut Sakowski führten sie immer wieder zu intensivsten Gedankenaustauschen und schönsten und tiefsten zwischen-menschlichen Begebenheiten.

Aber auch Ihr Pädagogennaturell, es sei mir erlaubt, es so zu formulieren, schlägt bei Ihnen, liebe Frau Gotthardt, immer wieder durch. Seit zwei Jahren führten Sie Seniorengesprächsrunden im Maria-Martha-Haus in der Tagespflege durch. Dabei sind Ihre Gesprächsthemen mit einem ausgeprägten jahreszeitlichen Bezug versehen, und Sie vermitteln so den alten Menschen wieder das Gefühl für den Rhythmus und den Reigen der sie umgebenden Welt.

Über einfachste Experimente mit natürlichen Gegenständen aus der Umwelt und Gespräche über traditionelle Handhabungen erinnern Sie Ihre Schützlinge an Sitten und Gebräuche und fordern somit zum Gespräch heraus. Und Sie vermitteln ihnen somit auch noch einmal zum Abschluss ihres Lebens den Sinn allen menschlichen Handelns und Tuns.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

eines ist schon bemerkenswert am Handeln von Frau Gotthardt: Hinter diesem Handeln stehen keine organisierten Größen. Es ist allein der Mensch der Ilse Gotthardt, der zum "Abenteuerer der Menschenliebe" wird, ganz allein auf sich gestellt.

Deshalb sei mir zum Schluss gestattet, eine Feststellung zu machen:

Sehr geehrte Frau Ilse Gotthardt,

ich habe das Gefühl, Sie selbst halten sich durch diese Art der Kommunikation noch jung. Denn die Fülle der Ideen und Gedanken, die Sie aufbringen, verraten einen jugendlichen und frischen Geist.

Ich weiß auch, Sie sind im innersten Ihres Wesens Marxist geblieben, und gerade deshalb gilt für Sie auch der christliche Anspruch nach der "Ehrfurcht vor dem Leben", das Menschliche zu entdecken, die Begeisterung im Anderen zu erwachen, die Augen aufzutun für den sichtbaren und vorhandenen Reichtum im Menschlichen. Danke!

Meine sehr geehrten Damen und Herren, werte Gäste,

die Hansestadt Rostock verleiht heute, am 5. Dezember des Jahres 2003, aus Anlass des Tages des Ehrenamtes den Sozialpreis der Hansestadt Rostock an Frau Ilse Gotthardt.